Die Macht interessiert mich dabei am meisten, und durch Erklärungen aus dem Fernseher werden Sie sie nie verstehen.
Auch durch mich werden Sie sie nicht verstehen, aber Sie werden zumindest sehen,
daß sie da ist. Eine graue, grauenhafte Anwesenheit, die Macht. Es soll, ich versuche es,
meist erfolglos, aber ich versuche es, diese Anwesenheit soll durch meinen unfreien Willen
herbeigeführt werden (unfrei deshalb, weil ich ja selber der Macht immer unterliegen muß).
Ich führe Personen auf die Bühne, die die Macht wie einen ausgezogenen Fetzen hinter sich
herschleppen, und wenn der Fetzen bis ins Kleinste noch weiter zerfetzt ist, zerfetzt sich
die Macht irgendwann selbst. Sie zerreißt ihren eigenen Körper vor Wut. Die Macht will sich
selbst auf Personen aufteilen. Sie will nicht, daß ein Autor das tut. Dagegen kann sie sich
aber nicht wehren. Jetzt spreche ich. Jetzt sage ich, was ich sagen will. Dass ein Theaterstück
anfängt und wieder aufhört, ist ja schon subversiv, keine Macht kann je erreichen, dass sie
anfängt und wieder aufhört, sie ist immer da, wie der Ewige. Und da zwingt ein Autor,
eine Autorin sie anzufangen. Einfangen kann man sie nicht, aber man kann sie zwingen,
anzufangen und aufzuhören. Weil sie einen Anfang hat. Warum muß sie überhaupt anfangen?
Weil wir sie brauchen? Ihr ist jedes Mittel recht, um da sein und sich über uns legen zu dürfen.
Aber das Mittel Theater ist ihr gar nicht so recht, in diesem blinden Spiegel will sie sich nicht
betrachten. Sie will sich nicht selbst anschauen. Sie will aus dem Fernsehapparat herausschauen und
lieber uns betrachten, damit sie sich unserer bemächtigen und uns übermächtigen kann.
aus: Elfriede Jelinek: Leider gleich ein kleiner Essay . In: Deutscher Bühnenverein (Hg.): Muß Theater sein? – Fragen, Antworten, Anstöße. Köln: Deutscher Bühnenverein 2003, S. 28-31, S. 30-31.
Antwort auf die Frage des Deutschen Bühnenvereins „In Mediengewittern – die Theater überflüssig?“; über den Gegensatz von Fernsehen (
Medien
) und Theater (
Theaterästhetik
), vor allem in Hinblick auf die von den Medien ausgehende Macht.