Das Vaterland kann töten, die Wissenschaft kann töten, der Krieg kann das natürlich schon längst,
Jesus ist selbst getötet worden, damit andre in seinem Namen, der nicht nur einfach so dahingestellt
und dahingeschrieben ist, töten können. Aber die Schrift selbst, als Schrift, die tötet nicht.
Klugheit und Wahrheit, ja, Worte sind nötig, das glaub ich auch, denn wer aufhört zu reden, der mordet vielleicht
im nächsten Moment schon. Daher: Ein besserer Pädagoge muß her und dem Kind „das erschöpfte Elementarbuch“
endlich aus den Händen reißen. Christus kam und zerriß selbst. Der Tempelvorhang zerriß, und Christus zerriß auch,
buchstäblich, und eine neue Zeit der Unsterblichkeit begann, aber einer Unsterblichkeit, für die man erst mal sterben mußte.
Umgekehrt geht nicht, da wird nicht einmal ein Schuh draus, der Schuh liegt dort ganz allein, und ein Stück zerfetzter
Fuß steckt noch drin. Da hätte man ihn doch gleich ganz lassen können, den Menschen. Da hätte man den Menschen doch gleich im Ganzen
erhalten können, statt ihn erst mal in den Tod zu schicken. Das Lamm Gottes hat seine Scharen zum Zerreißen angeregt,
und was sie zerrissen haben, das war kein Papier. Das Lamm wußte, was es heißt, ein Opfer zu sein. Andre sollen das auch genießen können.
Was ist dagegen bloße Schrift!
aus: Elfriede Jelinek: Das Wort, als Fleisch verkleidet. In: Le Monde diplomatique (deutsche Ausgabe) 12/2004, S. 1, 12-13, S. 12.
Dankesrede zur Verleihung des
Lessing-Preises für Kritik 2004
; von Jelinek bei der Preisverleihung am 3.5.2004 in gekürzter Fassung vorgetragen. Als Folie dient
Lessings
religionsphilosophische Abhandlung Die Erziehung des Menschengeschlechts , in der er die Erziehung eines Kindes durch Pädagogen mit der Erziehung des Menschengeschlechts durch die Offenbarung vergleicht. Den von
Lessing
postulierten Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit durch die Ankunft Christi zieht Jelinek in Zweifel, indem sie auf die Grausamkeit und Sinnlosigkeit seines Märtyrertodes (
Tod
) verweist. Davon ausgehend problematisiert sie das Märtyrermotiv (
Fundamentalismus
) auch in Bezug auf den
Islam
und fragt nach der Wirkung von Schrift im Allgemeinen, aber auch ihres eigenen Schreibens.
Jelinek verwendete eine gekürzte Fassung dieser Rede mit einem Anhang über
Stig Dagerman
als Dankesrede zur Verleihung des
Stig Dagerman-Preises der Stig Dagerman-Gesellschaft
; bei der Preisverleihung auf Laxön in Älvkarleby am 5.6.2004 wurde die Dankesrede, von Jelinek gelesen, per Video eingespielt. Veröffentlichung des Anhanges der Rede über
Stig Dagerman
:
http://www.elfriedejelinek.com/fdagerm.html (15.7.2014), datiert mit 12.6.2004 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2004, zu Politik und Gesellschaft; Titel: Stig Dagerman-Preis ).
Eine gekürzte Version der Dankesrede wurde bei der Emilia Galotti -Produktion des
Grazer Schauspielhauses
(Premiere: 25.11.2004) verwendet.
Andrea Wenzl
, die Darstellerin der Emilia, sprach sie am Ende als eine Art Epilog vor dem demontierten Bühnenbild. Diese Version basiert auf einer Kürzung, die von Jelinek für die Produktion vorgenommen wurde. Diese Kürzung wurde vom Regisseur
Gian Manuel Rau
und seinem Dramaturgen
Philippe Bischof
noch einmal gekürzt. Eine Fassung dieser weiteren Kürzung wurde im Programmheft abgedruckt:
Das Wort, als Fleisch verkleidet. Eine Art Epilog für Emilia Galotti . In: Programmheft des Schauspielhauses Graz zu Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti , 2004.
Die von Jelinek gekürzte Fassung wurde auch, von Jelinek gelesen, für Stefan Geisslers und Walter Seidls Video Untitled (Galotti) verwendet, das im Rahmen der Ausstellung Videorama. Kunstclips aus Österreich vom 4.11.2009-10.1.2010 in der
Kunsthalle Wien
zu sehen war. Veröffentlicht wurde das Video auf der DVD:
Kunsthalle Wien (Hg.): Videorama. Artclips from Austria. / Kunstclips aus Österreich . DVD. Wien: Kunsthalle Wien 2009.