Zündholz

Uraufführung am Schauspiehlhaus Graz beim steirischen herbst, 2010. Foto: steirischer herbst / Peter Manninger

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Aufführungen

 

Jelinek verfasste den Text für eine Produktion des

stei­ri­schen herbs­tes

2010. Der Regisseur

Ma­ria­no Pen­so­t­ti

hatte 18 AutorInnen aus aller Welt um Beiträge für seine Enzyklopädie des ungelebten Lebens ersucht, sie sollten in kurzen Texten Augenblicke notieren, „die wir hätten leben sollen, anders leben sollen – aber wie?“. Er fügte diese Texte – Prosa, Lyrik, Dramatik, Theorie von wenigen Sätzen bis zu drei Seiten – zu einem Theaterabend zusammen, an dem fünf SchauspielerInnen mitwirkten. Jelineks Text erzählt von einer aus der Ich-Perspektive geschilderten kurzen, gescheiterten Begegnung mit einem

Mann

.

 

Ich gehe über die Kärntner Straße, ungefähr Anfang 20 bin ich, trage einen alten Fuchspelzmantel. Ein Mann kommt auf mich zu und will mich ansprechen. Man muss mir glauben, dass ich, damals wie heute, einen Schutzvorhang vor mich gezogen habe, hinter dem ich mit mir allein bin, diesen Vorhang nehme ich überallhin mit. Der Mann will mich also ansprechen, er gefällt mir sehr, er ist attraktiv, um einiges älter als ich, dafür erscheint er mir merkwürdig fahrig und unsicher zu sein. Wahrscheinlich hat ihn mein Vorhang schon gestreift und ihm etwas von den Füßen gewischt, Staub, bevor er noch den Ring erreichen konnte, meinen inneren Ring, um den herum ich kein Feuer brauche, ich hätte ohnedies keins. Jedenfalls zündet er sich mit einer mir unerklärlichen Nervosität eine Zigarette an, und da springt das Streichholzköpfchen, noch brennend, vom Zündholz ab und in meinen Pelzmantel hinein, wo es aber keinen Schaden anrichtet, sondern einfach verglüht. Ich sehe nicht genau, was damit passiert, in Flammen stehe ich jedenfalls nicht. Der Mann gibt einen Laut des Bedauerns von sich, er weiß nicht, dass da nichts zu bedauern ist. Ich lächle ihn kurz an, gespielt zerstreut, denn er gefällt mir sehr gut, aber das gespielt Zerstreute schiebt mich ja schon halbwegs in meinen Gehweg hinein, in das eigene Gehweg!, das man sich aber nicht so aktiv vorstellen darf, wie es klingt, ich ergreife die Gelegenheit nicht, weil ich überhaupt keine Gelegenheiten ergreife, das heißt, dieser eine Moment ungelebten Lebens dehnt sich bis heute zu einer Verschlossenheit vor allem, vor allen Momenten und überhaupt vor jedem Sinn, vor jedem Wesenszug, in den ich nicht einsteige, vor jeder Haltung, die ich nicht einnehme, vor jedem Sinn, den ich mir absichtlich verborgen hätte, er könnte ja ein Schlüssel zu meinen Sinnen sein und überhaupt etwas Verborgenes, das ich nicht öffnen will, weil ich nichts öffnen will.

aus: Elfriede Jelinek: Zündholz . In: herbst. THEORIE ZUR PRAXIS 2010, unpag.

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