LÄRM. BLINDES SEHEN. BLINDE SEHEN!

Uraufführung am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg, 2021. Foto: Deutsches SchauSpielHaus Hamburg / Matthias Horn

Abdrucke

Erstabdruck:

Teilabdruck:

 

Ausgangspunkt für LÄRM. BLINDES SEHEN. BLINDE SEHEN! war die Corona-Pandemie (

Krank­heit

) und deren Auswirkungen auf

Po­li­tik

, Wirtschaft und

Ge­sell­schaft

.

Der Text besteht aus zwei nummerierten, durch Absätze und Leerzeilen gegliederten Teilen und ist nicht auf SprecherInnen aufgeteilt, lediglich im zweiten Teil wird mit „Ein Schweineballett im Chor“ eine chorische Sprechinstanz ausgewiesen.

Im Kontext der Lockdownmaßnahmen und der kursierenden Verschwörungsmythen rund um die Pandemie und die Corona-Impfung thematisiert der Theatertext die zunehmenden Spannungen in der

Ge­sell­schaft

. Werden im ersten Teil gesellschaftliche und mediale (

Me­di­en

) Diskurse, die Kommunikationsstrategie der österreichischen Regierung (

Ös­ter­reich

) während der Krise und die Idealisierung von Bundeskanzler

Se­bas­ti­an Kurz

zum Messias thematisiert, so rückt der zweite Teil die im Kontext der Corona-Pandemie sichtbar gewordenen kapitalistischen Ausbeutungsmechanismen (

Aus­beu­tung

,

Ka­pi­ta­lis­mus

) in den Fokus. Unter Bezugnahme auf die Verfehlungen der Behörden im Tiroler Skitourismusort (

Tou­ris­mus

) Ischgl zu Beginn der Pandemie werden die Vermarktung der

Na­tur

für den Wintertourismus und die Sexualisierung der Feierkultur in der Après-Ski-Szene thematisiert. Ausgehend von den im Juni 2020 bekannt gewordenen Corona-Fällen in einigen Schlachthäusern verweist der Text auch auf Arbeitsbedingungen und ausbeutende Strukturen innerhalb der auf Massenproduktion ausgelegten Fleischindustrie (

Tie­re

) und verknüpft diese mit

Ho­mers

Odyssee (

An­ti­ke

), insbesondere mit den Ereignissen während Odysseusʼ Aufenthalt bei der Zauberin Kirke auf der Insel Aiaia.

Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes nachgestellt:

„Ich gebe es ja zu:

Heid­eg­ger

hat eine gewisse Teilschuld, mehr aber nicht. Mehr gebe ich keinesfalls zu. Und wenn ich sage Zugabe, dann höre ich Sie schon, höre ich Ihr anschwellendes Geheul: Nein!!!!

Ho­mer

: „Die Odyssee“,

Freud

, aus.

Dazu noch:

Os­kar Pa­niz­za

: Das Schwein“

Auszüge des Theatertextes wurden unter dem Titel Blindes Sehen im Rahmen der Autoren[theater]tage 2020 am

Deut­schen Thea­ter Ber­lin

im Rahmen einer szenischen Lesung mit der Schauspielerin

Ma­ren Eg­gert

erstmals vorgestellt.

 

Ich schaue also Sie an, schon sind auch Sie abgeschrieben. Ich schlage mir ins Gesicht, treffe aber nur eine Maske. Die Maske verlangt einiges von mir. Daß ich sie richtig und fest aufsetze, ist noch ihre geringste Forderung. Seitlich sollte keine Luft eindringen und Verheerungen anrichten. Durch die Maske kann ich zwar sehen, wer Sie und wo Ihre Füße sind, wenn ich wieder mal den Rücktritt von jemandem fordere, der an irgendetwas schuld ist. Und über-haupt, das wollte ich noch sagen: Keiner, außer mir, entschuldigt sich mehr. Ich zeige ein Zeichen, schon fällt es mit dem Gezeigten zusammen, das Zeichen fällt mitsamt dem Gezeigten zusammen. Hören Sie es krachen? Die lassen es nämlich so krachen, daß man keine Luft mehr kriegt.

Sie hätten nicht in diese Bar gehen sollen. Der Skisport hätte ihnen genügen müssen. Das Gezeigte kann sich bei all dem Gehampel doch nicht vom Bezeichneten befreien. Meine Zeichen sind ohnmächtig, ich bin geschlagen. Sie tun es, Sie schlagen mich – ich entschuldige mich. Sie treffen mich ins Innerste – ich entschuldige mich. Ich kaufe etwas ein, und schon entschuldige ich mich wieder. Ich trage die Maske nicht, entschuldigen Sie bitte, das war nicht meine Absicht, ich weiß, Sie könnten durch mich krank werden. Gut, daß wenigstens Sie eine aufgesetzt haben, das schont meine Lunge. Ich trage den Vorsatz und führe ihn gleichzeitig aus. Ich werde vielleicht nicht verschont bleiben. Sie aber auch nicht. Endlich Verbrechen! Endlich Strafe! Endlich beschimpfte Asiaten auf der Straße und in der U-Bahn! Überall mas-kierte Asiaten! Entsetzlich. Die sollen wieder heimfahren. Diese beiden sind aber hier zu Hause, um die Musik zu studieren. […]

Ein menschlicher Zerstäuber kann viel Unheil anrichten. Zehn Prozent der Superzerstäuber sind für über 80 Prozent Bestäubte verantwortlich, die Früchte fallen schon betäubt vom Baum und faulen, bevor sie noch reif sind. Ich verwalte nur mich selbst. Ich halte mich in Schwebe, bin jedoch in meiner Rede, die vor mir schon viele andre gehalten haben, fest verwurzelt. Eine andre Rede wieder sagt zu ihrem Ansprechpartner, beide haben das vorher irgendwo gelesen, und zwar jeder woanders etwas anderes: Das Virus ist eine Erfindung, machen Sie einen tiefen Atemzug und zählen Sie bis zehn, und wenn Sie dann blau werden und ohnmächtig zu Boden fallen, wird Ihnen reden auch nicht mehr helfen.

aus: Elfriede Jelinek: Blindes Sehen . In: Deutsches Theater Berlin (Hg.): Autoren[theater]tage 2020, Berlin 2020, S. 80-88, S. 82-83.

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