Wenn man Elfriede Jelinek liest, staunt man als erstes über die eigentümliche, durchmischte Stimme, die aus ihren Texten spricht. Ihre Verfasserin ist überall und nirgends, steht nicht hinter dem,
was sie sagt, aber sie überlässt die Macht auch nicht ihren erdichteten Gestalten, so dass sie die Illusion hervorrufen könnten, sie existierten außerhalb ihrer Sprache. Es gibt einzig und allein diesen
Strom von gesättigten Sätzen, die anscheinend unter großem Druck zusammengefügt sind und keinen Platz für Augenblicke der Entspannung haben.
Elfriede Jelinek öffnet ihr Werk mit Absicht den Klischees, die Medien, Reklame und Populärkultur, das kollektive Unterbewusstsein unserer Zeit füllen. Sie manipuliert die Kodierung der Heftchenliteratur,
der Serien, der Fernsehseifenopern, der Pornographie und des Heimatromans, so dass der Wahnwitz durchscheint, der diesen scheinbar harmlosen Konsumphänomenen innewohnt. Sie ahmt die Vorurteile nach,
die zu hegen wir nie zugeben würden, und fängt hinter der gesunden Vernunft ein giftiges Gemurmel ohne Ursprung und Adressaten ein, die Stimme der Masse. Sie hat gesagt, dass sie die Sprache abklopft,
um die verborgene Ideologie abzuhören, so wie ein Arzt die Brust eines Patienten. Vollter Bestürzung merken wir, wie Klassenunterdrückung, Sexismus, Chauvinismus und Geschichtsverfälschung in der täglichen
Rede widerhallen. Der Sport ist plötzlich verdächtig: militärischer Drill, uniformähnliche Kleidung, der Kult des Starken und des Siegers. Die Natur: eine politische Falle. Die österreichische Alpenlandschaft
ist das perfekte Dekorum für ihre Zerstörung des Idylls.
aus:Horace Engdahls Laudatio auf Elfriede Jelinek im Rahmen der Nobelpreisverleihung in Stockholm.
In: Janke, Pia: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek. Wien: Praesens Verlag 2005 (=DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 1), S. 2553-254.
dotiert mit 10 Millionen Kronen
Verleihung am10.12.2004 im
Stockholmer Konzerthaus
Jelinek, die nicht anwesend war, las ihre
Dankesrede
per Videoeinspielung
Laudatio:
Horace Engdahl
Abdrucke der Laudatio:
Engdahl, Horace
:
Presentation speech. In: Les Prix Nobel 2004 = The Nobel prizes 2004.
The Nobel Foundation
Stockholm
:
Almqvist & Wiksell International
2005
, S. 24-25
.
Engdahl, Horace
:
Wo Men Shi Dai Zni Wei Zhen Shi De Dai Biao. In:
Ding Ping, Qian
:
„Gang Qin Jiao Shi“ Jelinek. 2004 Nian Nobel Wen Xue Jiang De Zhu Jelinek Wen Ji.
Wuhan
:
Chiang Jiang Wen Yi
2005
, S. 3-6
.
Engdahl, Horace
:
Euere Majestäten, Euere königlichen Hoheiten, meine Damen und Herren. In:
Janke, Pia
:
Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek.
Wien
:
Praesens Verlag
2005
(= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 1), S. 253-256
.
Engdahl, Horace
:
Verleihungsrede anlässlich der Überreichung des Nobelpreises an Elfriede Jelinek. In:
Jelinek, Elfriede
:
Die Klavierspielerin. Nobelpreis für Literatur 2004.
Berlin
:
Coron
2005
(= Nobelpreis für Literatur 99), S. 19-23
.
Engdahl, Horace
:
A Tribute to Elfriede Jelinek. In: World Literature Today 2/
2005
, S. 43-44
.
https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2004/ceremony-speech/ (09.09.2019)
10.12.2004
(= Website der Nobelstiftung, auf Englisch).
https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2004/7963-presentationstal-2004/ (09.09.2019)
10.12.2004
(= Website der Nobelstiftung, auf Schwedisch).
http://www.svenskaakademien.se/web/Horace_Engdahls_tal_vid_prisceremonin.aspx (6.9.2010)(= Website der Schwedischen Akademie; auf Schwedisch).