Das schweigende Mädchen

Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, 2014. Foto: Münchner Kammerspiele / Julian Röder

Abdrucke

Erstdruck:

Teilabdruck:

Zusatztext

 

Das schweigende Mädchen war eine Auftragsarbeit für die letzte Spielzeit von

Jo­han Si­mons

als Intendant der Münchner Kammerspiele. Ausgangspunkt des Textes war der Prozess gegen fünf Mitglieder der NSU (

Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Un­ter­grund

),

Bea­te Zsch­ä­pe

,

Ralf Wohl­le­ben

,

Hol­ger Ger­lach

,

An­dré Emin­ger

und

Cars­ten S.

wegen mehrfachen Mordes, Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation (

Ter­ro­ris­mus

,

Rechts­ra­di­ka­lis­mus

), der 2013 in München begann und bei dem

Bea­te Zsch­ä­pe

, jedenfalls in den ersten Monaten, durchgehend schwieg.

Im Text werden sowohl Medienberichte (

Me­di­en

) über das Verfahren als auch Prozessprotokolle verarbeitet. Zum Ort des Geschehens werden keine konkreten Angaben gemacht. Neben dem Richter werden im Text noch weitere Personen bzw. Chöre als SprecherInnen genannt: Ich, Der Engel, Ein Mann, Der Abwäger, Der Prophet, Irgendeiner, Ein Mensch bzw. Menschensohn, Die Jungfrau Maria, Gott selbst, Niemand sowie Ein kleiner Chor aus Plüschtieren (

Tie­re

) und ein Chor aus Engeln. Durch die Personenangaben und die verwendeten Intertexte aus dem Alten und dem Neuen Testament werden zahlreiche Bezüge zum Jüngsten Gericht im Christentum hergestellt.

Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes nachgestellt:
„So, lange Liste, ich ziehe mir ihre Fleischfasern zwischen den Zähnen heraus, das dauert, es muß ohne Zahnstocher gehen:

Se­mi­ya Şimşek

: Schmerzliche Heimat

Eu­ri­pi­des

: Elektra

Neues Testament und Psalmen (Luther-Übersetzung)
Altes Testament: Das Buch der Richter, Das Buch der Sprüche

Gerd Lü­de­mann

: Jungfrauengeburt?

Mar­tin Rösel

: Die Jungfrauengeburt des endzeitlichen Immanuel

He­si­od

: Theogonie (übers. v. Otto Schönberger, ja, mein Reclam-Heftl)

Heid­eg­ger

, wie fast immer.

und:

Schuldt

! Danke!“

Für

Mi­cha­el Si­mons

Inszenierung am Theater Dortmund verfasste Jelinek einen Zusatztext. Der Text entstand auf Anfrage des Regisseurs anlässlich einer angeblich bevorstehenden Aussage

Bea­te Zsch­ä­pes

vor Gericht. Der Text thematisiert das Schweigen

Bea­te Zsch­ä­pes

sowie das Verbergen der Wahrheit: „Wie soll dann in dem Verlesenen etwas so sein, wie es ist? Es ist ja nur das, was vorgelesen wird. Alles, was offen ist, ist nur die Zeit, in der wir etwas hören, das kein Sprechen ist. Es ist etwas anderes.“

 

 

Johan Simons:Die NSU-Verbrechen haben viele Menschen in Deutschland völlig unvorbereitet getroffen. Während scheinbar ein Rückgang rechter Gewalt in Deutschland auszumachen war, gab es nun plötzlich eine rechte Terrorzelle, die über Jahre hinweg unbemerkt mordete. Wie hast Du, Elfriede, diese Nachricht empfunden?

Elfriede Jelinek: Eine Werwolf-Mordserie ist einem nie als das Mögliche erschienen. Man hatte sich eigentlich schon in Sicherheit gewiegt und die Neonazis fast als Folklore betrachtet. Sie treffen sich halt und hören seltsame Musik. Aber sie haben immer gemordet oder auch Asylanten zumindest schwer verletzt. Das hat es ja immer gegeben, verstärkt aber seit der deutschen Wiedervereinigung. Man darf auch Pogrome wie die von Mölln oder Solingen nicht vergessen, die auf den Beifall einer breiten Öffentlichkeit gestoßen sind. Als würde ständig ein Raubtier irgendwo (und in vielen) lauern. Es ist nicht mehr etwas Fernes, Schweres. Die Mörder waren die ganze Zeit schon da, und wir wissen nicht, in wem sie sonst noch sitzen.

Welche Rolle haben eigentlich die Medien dabei gespielt?

Auch ich habe den Medien und ihren Phantasien von einer türkischen Mafia geglaubt. Da ich selten aus dem Haus gehe und nur wenige Menschen treffe, war das, was in den Zeitungen steht, schon immer wahrer für mich als die Wirklichkeit, die ich nicht gut kenne. Aber wenn diese unglaublichen Lügen, die da verbreitet wurden (und mit denen auch die Angehörigen der Opfer lange terrorisiert wurden!), für wahr verkauft werden konnten, auch mir, die ich mir bis dahin immer eingebildet hatte, ein kritischer Mensch zu sein, dann ist alles wahr und gleichzeitig alles gelogen. Dann kann ich auch der Bibel glauben. Dann kann ich jedem glauben.

Ich bin protestantisch erzogen worden. Was soll ich mit der Jungfrau Maria anfangen?

Ich beziehe mich auf die Jungfrauengeburt einfach als göttliches Zeichen. Schon Beate Zschäpes Mutter wurde von ihrer Geburt überrascht, sie wusste gar nicht, dass sie schwanger war. Zschäpe selbst hat durch eine Operation in jungen Jahren ihre Eierstöcke verloren. Sie schweigt. Ihre Mutter schweigt auch. Eine Kette des Schweigens von ewigen Jungfrauen.

aus: Johan Simons: o. T. In: Spielzeitheft der Münchner Kammerspiele 2014/15, S. 9.

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