Ausgerechnet 15 Jahre später (er hat übrigens, als es gefahrlos wieder möglich war,
nach dem Krieg, einen kleinen Mischling fabriziert, ein ganz schönes Risiko, wenn
man das Alter von Mutter und Vater bedenkt. Wie leicht hätte nicht ein kleiner
Mischling, sondern ein kleiner Krüppel, ein kleines Mongölchen draus werden
können! Aber nein, das Kind war so weit ganz o.k.), ausgerechnet dann also muß der
Trottel wahnsinnig werden. Ursächliche Zusammenhänge sind nicht erwiesen.
Einfach plemplem. Total regrediert. Verrückt. Verblödet. Das zog sich über Jahre hin,
in denen das betreffende (und betroffene) Familienmitglied zum Kummer seiner
trauernden Verwandten, bzw. derer, die übriggeblieben waren, die übrigbleiben
durften (in der Schweiz oder sonstwo) immer mehr verblödete, geistig wegtrat,
die Namen für die Gegenstände, bzw. die Gegenstände für die Namen vergaß, die
Kurve nicht mehr kriegte, die Gesichter vergaß, das, was er erlebt hat, vergaß, die
Namen seiner Lieben vergaß, vergaß, wo er war und als was, seine Arbeit vergaß,
sein kompliziertes Wissensgebiet vergaß, sich selbst vergaß, alles um sich herum
vergaß, oben und unten, links und rechts vergaß, die Zukunft schon vergaß, bevor
sie noch eingetreten war, seinen eigenen Namen vergaß, kurz, vergaß, wozu das,
was er sah, wenn er an sich hinunterblickte, denn eigentlich gut wäre und das
Umgebende detto.
Der Verwandte starb an irgend was am Herzen (Obduktion!), welches letztere doch
immer in Ordnung gewesen war und viel auszuhalten vermochte. Man pflegte
Menschen, welche in die unangenehme Situation gerieten, verrückt zu werden,
mit starken Beruhigungsmitteln zu versorgen, damit sie den Pflegern keine Arbeit
machten. Immer noch besser als gleich umbringen wie früher, vor nicht allzulanger
Zeit, meinte seine verständige Ehefrau, die man natürlich vom Ableben ihres Gatten
in Kenntnis setzte. Auch so was war nicht immer selbstverständlich, es kam eben
immer drauf an, wer starb. So hatte er noch eine Gnadenfrist gehabt, wenn auch nur
eine kurze.
Der Verwandte, welcher über all die Jahre hinweg als einzige große Leidenschaft
das Spazierengehen gekannt hatte, welches bekanntlich nichts kostet als
Schuhsohlen, und welches daher ein vergleichsweise billiges Vergnügen darstellt
(Autofahren hatte er nie gelernt), durfte im letzten Jahre seines Daseins nicht mehr aus dem
bewahrenden Gitterbette kraxeln. Es war dies zu seinem eigenen Besten.
Verletzungsgefahr! Renitenzgefahr!
aus: Elfriede Jelinek: Erschwerende Umstände oder Kindlicher Bericht über einen Verwandten. In: Weyrauch, Wolfgang (Hg.): Das Lächeln meines Großvaters und andere Familiengeschichten. Düsseldorf: Claassen 1978, S. 106-111, S. 110-111. (Schluss)
Erzählt wird die Biographie eines Verwandten, dessen Name nicht genannt wird. Sie entspricht der Lebensgeschichte von
Friedrich Jelinek
, dem
Vater
der Autorin, der als Jude mit einer Nicht-Jüdin verheiratet war, durch die Unterstützung seiner Ehefrau ein Chemie-Studium absolvieren konnte und dank seiner Ausbildung der Verfolgung durch den
Nationalsozialismus
entging. 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird er geisteskrank (
Wahnsinn
) und stirbt in einem Sanatorium. Seine große Leidenschaft, das Spazierengehen, findet sich als Motiv auch in den Theatertexten
er nicht als er (zu, mit Robert Walser)
(1998),
Der Wanderer
(2001) und
Winterreise
(2011).