Erschwerende Umstände oder Kindlicher Bericht über einen Verwandten

Abdrucke

 

Erzählt wird die Biographie eines Verwandten, dessen Name nicht genannt wird. Sie entspricht der Lebensgeschichte von

Fried­rich Je­li­nek

, dem

Va­ter

der Autorin, der als Jude mit einer Nicht-Jüdin verheiratet war, durch die Unterstützung seiner Ehefrau ein Chemie-Studium absolvieren konnte und dank seiner Ausbildung der Verfolgung durch den

Na­tio­nal­so­zia­lis­mus

entging. 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird er geisteskrank (

Wahn­sinn

) und stirbt in einem Sanatorium. Seine große Leidenschaft, das Spazierengehen, findet sich als Motiv auch in den Theatertexten

er nicht als er (zu, mit Ro­bert Wal­ser)

(1998),

Der Wan­de­rer

(2001) und

Win­ter­rei­se

(2011).

 

Ausgerechnet 15 Jahre später (er hat übrigens, als es gefahrlos wieder möglich war, nach dem Krieg, einen kleinen Mischling fabriziert, ein ganz schönes Risiko, wenn man das Alter von Mutter und Vater bedenkt. Wie leicht hätte nicht ein kleiner Mischling, sondern ein kleiner Krüppel, ein kleines Mongölchen draus werden können! Aber nein, das Kind war so weit ganz o.k.), ausgerechnet dann also muß der Trottel wahnsinnig werden. Ursächliche Zusammenhänge sind nicht erwiesen. Einfach plemplem. Total regrediert. Verrückt. Verblödet. Das zog sich über Jahre hin, in denen das betreffende (und betroffene) Familienmitglied zum Kummer seiner trauernden Verwandten, bzw. derer, die übriggeblieben waren, die übrigbleiben durften (in der Schweiz oder sonstwo) immer mehr verblödete, geistig wegtrat, die Namen für die Gegenstände, bzw. die Gegenstände für die Namen vergaß, die Kurve nicht mehr kriegte, die Gesichter vergaß, das, was er erlebt hat, vergaß, die Namen seiner Lieben vergaß, vergaß, wo er war und als was, seine Arbeit vergaß, sein kompliziertes Wissensgebiet vergaß, sich selbst vergaß, alles um sich herum vergaß, oben und unten, links und rechts vergaß, die Zukunft schon vergaß, bevor sie noch eingetreten war, seinen eigenen Namen vergaß, kurz, vergaß, wozu das, was er sah, wenn er an sich hinunterblickte, denn eigentlich gut wäre und das Umgebende detto.

Der Verwandte starb an irgend was am Herzen (Obduktion!), welches letztere doch immer in Ordnung gewesen war und viel auszuhalten vermochte. Man pflegte Menschen, welche in die unangenehme Situation gerieten, verrückt zu werden, mit starken Beruhigungsmitteln zu versorgen, damit sie den Pflegern keine Arbeit machten. Immer noch besser als gleich umbringen wie früher, vor nicht allzulanger Zeit, meinte seine verständige Ehefrau, die man natürlich vom Ableben ihres Gatten in Kenntnis setzte. Auch so was war nicht immer selbstverständlich, es kam eben immer drauf an, wer starb. So hatte er noch eine Gnadenfrist gehabt, wenn auch nur eine kurze.

Der Verwandte, welcher über all die Jahre hinweg als einzige große Leidenschaft das Spazierengehen gekannt hatte, welches bekanntlich nichts kostet als Schuhsohlen, und welches daher ein vergleichsweise billiges Vergnügen darstellt (Autofahren hatte er nie gelernt), durfte im letzten Jahre seines Daseins nicht mehr aus dem bewahrenden Gitterbette kraxeln. Es war dies zu seinem eigenen Besten. Verletzungsgefahr! Renitenzgefahr!

aus: Elfriede Jelinek: Erschwerende Umstände oder Kindlicher Bericht über einen Verwandten. In: Weyrauch, Wolfgang (Hg.): Das Lächeln meines Großvaters und andere Familiengeschichten. Düsseldorf: Claassen 1978, S. 106-111, S. 110-111. (Schluss)