Reinhold Reiterer: Ihr Text „Das Schweigen“ über den gescheiterten Versuch, Robert Schumann zu beschreiben, liest sich wie eine Verarschung von Thomas Bernhards „Beton“.
Elfriede Jelinek: Ich halte „Beton“ für einen der genialsten Prosatexte von Bernhard. Es geht nicht darum, ihn zu „verarschen“. Mich interessieren nur seine Mc Guffins, wie Alfred Hitchcock sie in bezug auf seine Filme erfunden und benannt hat. Also Aspekte, Angelpunkte der Handlung, die nicht weiter erläutert werden, aber um die sich alles dreht. So benutzt Bernhard ja auch Philosophen wie Wittgenstein oder Pascal als Mc Guffins. Es dreht sich immer um die größten, letzten Dinge (auch z. B. Glenn Goulds Bach-Spiel), aber sie werden immer nur umrissen, angedeutet, treiben die Handlung voran, ohne je erläutert zu werden. Ich habe mich mit einem, der eine fiktive Schumann-Biographie schreibt, sozusagen auf dieses Thema draufgesetzt und es auch ein bissel parodiert, wenn man so will.
aus: Reinhold Reiterer: „Es geht immer um letzte Dinge“ . In: Bühne 10/2003, S. 64-65.
Jelinek verfasste Das Schweigen für das Theaterfest zum Abschied
Frank Baumbauers
als Intendant des
Deutschen Schauspielhauses Hamburg
im Jahr 2000. Der kurze Text wurde für den Schauspieler
André Jung
geschrieben, der ihn auch bei der Uraufführung interpretierte.
Der Text weist keine Einteilung in Szenen, Absätze oder Angaben zu Figuren, Zeit und Ort auf. Es spricht ein nicht näher benanntes Ich und erläutert eine von ihm verfasste Arbeit über den Komponisten
Robert Schumann
. Am Beispiel der Biographie des Musikers (
Musik
) thematisiert der Text das Spannungsfeld von Sprechen, Schreiben und Schweigen sowie die Rolle des Künstlers (
Künstler
) als gesellschaftlicher
Außenseiter
. Auch der
Wahnsinn
des Komponisten und die Beziehung zu seiner Frau Clara werden angesprochen. Intertextuelle und intermediale Bezugspunkte sind neben
Schumanns
musikalischem Werk auch
Thomas Bernhards
Erzählung Beton (1982), in der es um eine wissenschaftliche Arbeit über den Komponisten
Felix Mendelssohn Bartholdy
geht, und Jelineks Theatertext
Clara S. (1981)
.
Ernst M. Binder
kombinierte für seine Produktion Wer will allein sein. Eine Untersuchung (2003) seine Inszenierung von Das Schweigen mit einer Toneinspielung von Jelineks Essay
Die Zeit flieht (1999)
. Diese Aufnahme bildete die rhythmisch-klangliche Grundlage einer kontrapunktierenden Komposition von
Josef Klammer
.