Gier

Ein Unterhaltungsroman

Cover des Erstdrucks, 2000

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Der Roman ist in neun durchnummerierte Abschnitte gegliedert. Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes vorangestellt:

„Dank an

An­dre­as Mar­ne­ros

: ‚Sexualmörder’,

Eli­sa­beth Pfis­ter

: ‚Unternehmen Romeo,

die Liebeskommandos der Stasi’,

In­go Wirth

: ‚Tote geben zu Protokoll’,

‚profil’ (

Paul Yvon

). (E. J.)“

Jelinek bezieht sich in ihrem Roman auf einen realen Mordfall: Am 12.11.1986 verschwand das 17-jährige Lehrmädchen

Mar­ti­na Posch

aus Vöcklabruck auf dem Weg zur Arbeit. Zehn Tage später wurde ihre in eine Plastikplane gehüllte Leiche im Mondsee gefunden.

Mar­ti­na Posch

wurde erwürgt. Der Mord zog eine der größten Fahndungsaktionen der Nachkriegszeit nach sich und ist bis heute ungeklärt. Im Roman gibt es zahlreiche Bezüge auf politische Ereignisse (

Po­li­tik

) in

Ös­ter­reich

, vor allem auf die Wende durch die ÖVP-FPÖ-Regierungsbildung (

Frei­heit­li­che Par­tei Ös­ter­reichs

) im Jahr 2000. Wie andere Romane Jelineks spielt auch Gier in der österreichischen Provinz. Der verheiratete Dorfgendarm Kurt Janisch macht sich an alleinstehende Frauen heran, um sie dazu zu bringen, ihm ihre Häuser zu überschreiben. Janisch hat eine Affäre mit Gerti, einer alternden Frau, und mit der minderjährigen Gabi. Als er Gabi, nachdem er mit ihr im Haus von Gerti Sex hatte, nach Hause bringt, droht sie ihm, alles ihrer Mutter zu erzählen, wenn er ihr nicht noch mehr Geschenke macht. Daraufhin erdrosselt er sie beim Oralverkehr und entsorgt ihre Leiche in einem Baggersee. Gerti ahnt, dass Janisch etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hat. Sie begeht Selbstmord und vermacht zugleich Janisch ihren Besitz. Janischs Verbrechen bleibt so unentdeckt. Gertis Selbstmord wird am Ende des Romans mit den Worten: „Es war ein Unfall.“ kommentiert. Jelinek spielt damit auf

In­ge­borg Bach­manns

Roman Malina an, der mit dem Verschwinden der Frau in einem Riss in der Wand und dem Satz „Es war Mord.“ endet.

Der Titel des Romans spielt wie auch

Lust (1989)

und

Neid (2007/2008)

auf eine der Sieben Todsünden (

Tod­sün­de

) an.

Die Verbindung von

Ge­walt

und

Se­xua­li­tät

, weiblicher

Ma­so­chis­mus

wie auch die Kritik an den durch

Pa­tri­ar­chat

und

Ka­tho­li­zis­mus

geprägten Geschlechterrollen (

Frau

,

Mann

) in der

Ge­sell­schaft

sind zentrale Themen des Romans.

 

Julia Kospach: Ihre Sprache zeichnet einmal mehr ein erschreckendes und deprimierendes Bild vom Verhältnis der Geschlechter zueinander: Nichts als Brutalität und Gewalt mit Sex als dem Instrument der Machtausübung von Männern über Frauen. Sind Frauen um keinen Schritt weitergekommen?

Elfriede Jelinek: Nein, ich sehe das nicht so, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern wesensmäßig nichts als Brutalität und Gewalt ist. Es ist viel banaler, nämlich, dass das scheinbar Natürlichste (Sex, Liebe, Ehrgeiz etc.) das in Wahrheit gesellschaftlich Bedingteste ist. So wie die zweite Natur die erste längst überlagert hat. [...] Es geht also nicht um Brutalität, sondern um die Ausübung von Herrschaft, auch im Privatesten. Ein Körper eignet sich einen anderen an, und es ist ja der Mann, der sich die Frau aneignet, wie er sich ihre Arbeit im Haushalt und überhaupt all die unbezahlten Arbeiten, die sie leistet und die in keinem Bruttoinlandsprodukt aufscheinen, aneignet. [...]

Warum trägt „Gier“ den Untertitel „Ein Unterhaltungsroman“?

Na ja, was soll ich bei einem „Unterhaltungsroman“ groß erklären. Wenn man Unterhaltung erklären soll, ist sie ja keine mehr. Vielleicht ist es eine Art Denksportaufgabe herauszufinden, wieso ich diesen Roman überhaupt „Unterhaltungsroman“ nenne. Ich werde das dem Leser aber nicht abnehmen, er soll selbst entscheiden, ob er den Untertitel ironisch nehmen will oder nicht. [...]

Ist der Provinzgendarm und Mörder Kurt Janisch, ihre Hauptfigur, der prototypische österreichische Ungustl und Biedermann: provinziell, brutal, frauen- und fremdenfeindlich, selbstgerecht? Oder ist er ein ganz individuelles Monster?

Natürlich tragen meine Figuren immer beides in sich, ihre ganz persönliche Individualität und ihre gesellschaftliche Bedingtheit, also das Allgemeine. Vielleicht ist es überhaupt so, dass, je mehr das Individuum als solches Anerkennung sucht, desto mehr offenbart es dabei seine gesellschaftliche Bedingtheit, und der Schriftsteller tut nichts Anderes, als seine Figuren auf diesem Weg bis zum bittren Ende zu begleiten. Ich wollte halt nach den „Kindern der Toten“, die ja in den Figuren wie im Thema eher überlebensgroß angelegt waren (natürlich, es waren ja meist Gespenster), diesmal, im Unterhaltungsroman, kleinere Figuren, alltägliche, eben Dorfgendarmen oder die aus der Stadt zugezogene Frau beschreiben. Ich wollte vielleicht das Grauen hinter diesen scheinbar ganz alltäglichen Existenzen zeigen. Wie heißt es doch immer so schön, wenn wieder einmal einer seine Familie mit der Pumpgun ausgerottet hat? Er war immer so ein unauffälliger, ruhiger Mensch.

aus: Julia Kospach: Manchen fehlt ein Enzym. In: Berliner Zeitung, 11.9.2000.

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