Rita Thiele: [...] In „Ein Sturz“ knüpfen Sie an den ersten Teil der „Orestie“ von Aischylos „Agamemnon“ an. Warum lassen Sie so unterschiedliche historische Epochen zusammenrücken?
Elfriede Jelinek: Ich würde sagen, das ist eine literarische Strategie. Ich benütze die alten Texte als Rhythmusgeber. Ich hangle mich an ihnen entlang, um dann immer wieder (hoffentlich) neue Räume aufzuschließen, mit ihren Schlüsseln. Die Lächerlichkeit, eben das Parodistische, entsteht aus der Fallhöhe zu den großen Texten, die ich natürlich verstärke oder überhaupt erst herstelle. Wo einst die Götter thronten, ihre Rivalitäten austrugen und die Geschicke bestimmten, wird heute den Menschen die eigene Stadt mittels cross border leasing unter dem Hintern weg verkauft. Die Stadt ist zwar immer noch ein Göttersitz, aber ihre Götter sollen ungenannt bleiben, sie gehört sich nicht mehr und nicht ihren Bewohnern. Sie gehört, um eines nebulösen Steuervorteils willen, irgendwelchen Herrschern in der Ferne. Alles ist im Nebel, und gleichzeitig geht alles irgendwie seinen Gang. Es funktioniert, mehr schlecht als recht, aber irgendwie funktioniert es. Niemand kontrolliert die Mächtigen, die mächtig gar nicht mehr sind, denn sie haben ihre Macht längst abgetreten. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Aber was daraus wird, das sieht man nur, wenn dem Boden das Grundwasser entzogen wird, und ein Gebäude einstürzt, weil dieser Boden dann nachgeben muß, denn dieses Wasser ist der Stärkere. Dann bleibt das große Gebäude schon mal nicht groß. Und das Herrscherhaus ist kein Haus der Herrscher mehr. Es wird nicht geherrscht und das Haus gibt es auch nicht mehr. Eigentlich könnte da nur mehr eine Art Stadt-Psychoanalyse etwas erklären.
aus: Rita Thiele: Glücklich ist, wer vergisst? Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Elfriede Jelinek und Rita Thiele. In: Programmheft des Schauspiel Köln zu Elfriede Jelineks Das Werk / Im Bus / Ein Sturz, 2010.
E-Mail-Wechsel über den öffentlichen Umgang mit dem Holocaust (
Judenvernichtung
,
Nationalsozialismus
), Vergessen und Erinnern (
Vergangenheitsbewältigung
), insbesondere in
Österreich
, das Mittel der Ironie für das Theater, die Hintergründe der Theatertexte
Das Werk
und
Ein Sturz
und die demokratische Form (
Demokratie
) des Internets (
Internet
). In den beiden Texten gehe es ihr darum, „den Vergessenen, Verschwundenen ihre Stimme wiederzugeben“. Über die verarbeiteten Intertexte aus Tragödien der griechischen
Antike
( Die Troerinnen von
Euripides
und Agamemnon von
Aischylos
).
Ein Sturz
beschreibt sie als „eine Art Satyrspiel“, in dem „die Elemente selbst gegeneinander“ antreten.