Marietta Piekenbrock:„In den Alpen“ – ein trügerischer Titel oder doch ein Heimatroman?
Elfriede Jelinek: Im weitesten Sinn sind fast alle meine Texte Heimattexte, weil ich mich eben so an meiner lieben Heimat abarbeite [...]. Ich nehme diesem Heimatbegriff seine Unschuld. Vielleicht ist das überhaupt der Anstoß zum Schreiben bei mir: den scheinbar unschuldigen Dingen wie Sex, Sport, Freizeit ihre Unschuldsmaske herunterzureißen. Österreich ist nach der Katastrophe der Nazi-Zeit sehr rasch wieder zu dieser Unbeflecktheit des Schnees und der Berge zurückgekehrt. Ich habe das endlose Bedürfnis, die Erde wegzukratzen und den Untergrund, auf dem diese Lift- und Jausenstationen gebaut sind, bloßzulegen.
War Ihnen, als Sie die Bilder von Kaprun sahen, spontan klar, dass es sich um ein charakteristisches „Jelinek-Ereignis“ handelt?
Ja, ich habe sofort gewusst, dass ich etwas über diese Katastrophe schreiben würde. Es geht nicht darum, dass Katastrophen mich „aufgeilen“. Das wäre wirklich verwerflich. Ich sehe in diesen Katastrophen immer das Exemplarische. Ich grabe sozusagen den Schutt und den Ruß weg und gerate unter die Erde, dorthin wo die Toten dieses Landes begraben sind. Das ist ja entscheidend an der nationalen Identität Deutschlands wie Österreichs. Sie ist weniger auf die großen Toten ihrer Geschichte gegründet als auf das Nichts, auf die Toten, die diese Länder erzeugt haben.
aus: Marietta Piekenbrock: Brandopfer der Freizeit. Zur Premiere: Gespräch mit Elfriede Jelinek über ihr Kaprun-Stück. In: Münchner Merkur, 2./3.10.2002.
Aus Anlass der Uraufführung von
In den Alpen
an den
Münchner Kammerspielen
; über
Heimat
, die österreichische Geschichte (
Österreich
) und den eingearbeiteten
Celan
-Text Gespräch im Gebirg . Es gehe ihr darum, dem Heimatbegriff seine Unschuld zu nehmen. An den
Celan
-Intertexten interessiere sie „die Fremdheit dieser Sprache“, durch die „ein völlig neuer Sprachduktus“ in den Text hineinkommt.