Roland Koberg:Fasziniert Sie Faust, der deutsche Mann?
Elfriede Jelinek: Er fasziniert mich überhaupt nicht als deutscher Mann. Er fasziniert
mich als Dramenfigur, die von einem deutschen Mann geschaffen wurde,
der das eherne Gesetz des Schaffens entschlossen an sich gerissen hat und über
die Schicksale seiner Figuren verfügt. Man könnte auch sagen, ich renne mit der
Schaufel und dem Besen hinter ihm her und beseitige den Menschenmüll, den der
Klassiker hinterlassen hat. [...]
Was war zuerst wichtig? Sich zu Goethes „Faust“ zu äussern oder einen Text zu Fritzl und
den Strategien des patriarchalischen Machterhalts zu schreiben?
Der erste Impetus war sicher schon, sich diesem Marmorblock Goethe zu nähern,
mit schwachen Fingernägeln ein bisschen an ihm zu kratzen. Alles, was so unumstritten
ist wie die Grösse Goethes und seines Hauptwerks reizt mich, auch im Bewusstsein,
davon ausgeschlossen zu sein, denn die grossen Kulturschöpfungen
kommen ja nicht von der Frau. Aber manchmal kann sie wenigstens mit einem kleinen
Daunenkissen auf den Marmor einschlagen. Bis die Federn fliegen. Fritzl ist
nur, wie gesagt, ein exemplarischer Fall, aber es gibt unzählige.
Bei Goethe wie auch in Ihrem Sekundärdrama geht es um die Macht über die Frau. Argumentieren
Sie „als Frau“, so wie Goethe seinen Faust „als Mann“ geschrieben hat?
Ja, wahrscheinlich geht es nicht anders, also für mich nicht. In meiner Methode der
sarkastischen, überspitzten und überspitzenden Schilderung muss man exemplarisch
bleiben, da kann man mit Individualisierung wenig erreichen, man kann sie
höchstens als Beispiel immer wieder einfügen, als Konkretion des Gesagten. Zumindest
in den Sekundärdramen [...] will ich ja gerade auf etwas verweisen, auch
im Sinn von: wegweisen, den Weg weisen und jemand, den Fremden, den, der nicht
hierher gehört (und die Frau ist ja nicht das Subjekt, sie ist Das Andere) wegweisen.
[...]
Als Grundsituation geben Sie an: Frauen in Fernsehsesseln. Es wird geredet und geklagt,
aber die Frauen kommen nicht aus dem Sessel. Ist „Faustin and out“ auch ein Stück gewordenes
Frauenschicksal?
In gewisser Weise teile ich dieses Schicksal mit allen. Ich weiss bloss, dass mir durch
die Medialisierung von Realität nichts wirklich entgeht.
aus: Roland Koberg: Die Bühne ist ein klaustrophobischer Raum. Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek im E-Mail-Austausch
mit dem Dramaturgen Roland Koberg. In: Programmheft des Schauspielhauses Zürich zu Faust 1-3 , 2012.
Über die Form des Sekundärdramas, die Figur des Faust,
Goethes
Urfaust und Faust , ihre Verwendung von Zitaten in
FaustIn and out
, die Fälle
Fritzl
und
Natascha Kampusch
, das Verhältnis von Opfern und Tätern und die
Medien
als ihre Quellen. In den Sekundärdramen gehe es ihr darum, sich „in ihre Leerstellen hineinzuquetschen“ und „den Menschenmüll, den der Klassiker hinterlassen hat“, zu beseitigen. Den im Stück verarbeiteten Fall
Fritzl
beschreibt sie als einen „der Kulminationspunkte der männlichen Verbrechen an der Frau“ (
Frau
,
Mann
,
Gewalt
).