Kathrin Tiedemann: Bram Stokers „Dracula“ und Le Fanus „Carmilla“ sind ja zwei
wichtige Quellen für KRANKHEIT. Wenn man „Dracula“ als literaturgeschichtlichen
Endpunkt dieses Genres liest, könnte man sagen, daß dort an der Schwelle zum 20. Jahrhundert
die Domestizierung der Frau zur Sekretärin, Hausfrau und Mutter beschrieben wird.
Und die Carmilla-Figur durchläuft ja eine entgegengesetzte Entwicklung von der Hausfrau
und Mutter zum Vampir. Was hat Sie denn so fasziniert an diesen Vampirgeschichten?
Elfriede Jelinek: Mich hat immer die schwarze Romantik interessiert [...]. Und dann
habe ich eben für dieses Unheimliche, dieses nichtfaßbare Große des Vampirs etwas
Kleines gebraucht, an dem ich es festmachen konnte. Da ist mir eben die Krankenschwester
eingefallen, jemand, der eigentlich heilt und hilft und dem Arzt dient,
sich in diesem Fall aber andererseits ungeniert an der Theke des Arztes bedienen
kann. [...] Dann hab ich diesen Aufsatz von der Eva Meyer gefunden, von der Frau,
die kein großer Meister ist, weil sie, beschäftigt wie sie ist mit dem Verschwinden,
immer wieder auftauchen muß. Und „Carmilla“ von Le Fanu mit dem lesbischen
Vampir, der ja nicht begehrt wird, sondern selbst begehrt, was ja eine Rolle ist, die
für die Frau nicht vorgesehen ist, außer sie begehrt in der eigenen Verneinung. Und
in dem Fall ist sie ja sogar eine Erobernde, indem sie eine andere Frau auch noch
triggert. Oder eine Eroberte, die zu einer Erobernden wird und sich sogar gegen
ihre Kinder wendet. Und Emily Brontë war auch immer eine Figur in der
Literaturgeschichte, die mich immer sehr interessiert hat. Eine ewige Jungfrau. Die Mutter
und die Jungfrau – also nicht die Mutter und die Hure, sondern die Jungfräuliche,
die nur ihrem Werk lebt, auch ein Mann eigentlich. Daß [sic] ist ja für die Frau nicht
vorgesehen, nicht zu gebären und nur ihrem Werk zu leben. Es ist übrigens interessant,
daß im englischsprachigen Raum die alte Jungfer nichts Verächtliches ist,
sondern etwas, was Schöpferkraft hat. Die ganze englische Literatur ist ja auch von
solchen Jungfern durchzogen. [...]
Für die beiden Vampire geht die Geschichte aber nicht gut aus.
Das kann es auch nicht, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht danach sind.
Sie haben keinen Ort und können auch keinen finden, weil das Patriarchat sie ja
überall einholt und mit seinen relativ erbärmlichen Mitteln trotzdem stärker ist.
aus: Kathrin Tiedemann: Wenn ich total heiter bin, werde ich am Schrecklichsten sein . In: Programmheft des Bremer Theaters zu Elfriede Jelineks Krankheit oder Moderne Frauen , 1994.
Über
Krankheit
und ihre
Theaterästhetik
. Sie erläutert die Funktion des Doppelgeschöpfs am Ende des Stücks und beschreibt das Spannungsfeld von männlichem (
Mann
) und weiblichem Sprechen dahingehend, dass die Frauen (
Frau
) im Text solange sprechen, „wie sie sich die Illusion bewahren können, daß sie eine Sprache hätten, während die Männer ja immer in einer bis zum Bellen gehenden Verkürzung der Sprache, einer Sprache des gesellschaftlichen Über-Ichs, der Ordnungsmacht sprechen“.