Es ist doch seltsam, daß einem die Dinge, die man in Kindheit und Jugend erlebt hat, immer gegenwärtiger bleiben als alles, was einem später passiert ist. Jeder Künstler zehrt nur von diesem Reservoir, das in ihm damals, in der Schulzeit, in den Ferien, bei den Eltern angelegt worden ist. Egal, was für ein Leben er oder sie später gehabt hat, nichts davon kann so tief in uns eindringen wie das Andenken in das Vergangene, und das endgültigst Vergangene ist die Kindheit. Sie ist aber gleichzeitig das, was nie vergeht. […] Die Vergangenheit ist eingerahmt in unser Heute, und, da wir uns erinnern, wird die Vergangenheit unwiderruflich, sie duldet keine Fragen mehr, nur Antworten, und das Heute wird vage. Jetzt gebe ich mir also die Antwort, mir und den Freundinnen, die mit mir hier in der Albertgasse, Mädchengymnasium, Hausnummer 38, waren, die Antwort des Schulwegs an einem Frühlingstag mit dem Geruch aufgewärmten Staubs in der Luft, die Russensemmel mit viel Zwiebel beim kleinen Greißler gegenüber (gibts den noch?), den Zeichensaal oben unterm Dach (Geruch nach nasser Malfarbe und Kreide), der stinkende feuchte Schlamm in seinem Schüsserl, die Angst vor der Mathematikschularbeit. […] Wohin sind die Freundinnen gegangen. Von einigen weiß ich es. Aber wo sie auch sein mögen, an dieser Quelle treffen wir uns, wenn wir uns zurückdenken, und es ist einen Augenblick, als hätten wir all die anderen Menschen in unserem Leben nie gekannt.
aus: Elfriede Jelinek: Albertgasse 38. In: Bundesrealgymnasium und Wirtschaftskundliches Realgymnasium (Hg.): Festschrift anläßlich der Übersiedlung des GRg und WRg 8 vom Schulgebäude Albertgasse 38 in das neue Schulhaus Feldgasse 6-8 mit Beginn des Schuljahres 1994/95. Wien: Eigenverlag GRg und WRg 8 1994, S. 141.
Über ihre Schulzeit im Gymnasium Albertgasse 38 im 8. Wiener Gemeindebezirk als Beitrag für eine Festschift dieser Schule. Über Kindheit als das endgültig Vergangene, wobei die Erinnerungen an das Vergangene ständig präsent sind.