Es ist, als ob man ein Tier wäre, und die Angst säße einem auf dem Rücken. Man kann sie nicht abschütteln, man kann es nicht einmal versuchen, denn schon der Versuch würde Kraft erfordern, die einem nicht zu Gebote steht. Man zittert, schüttelt sich, ist verzweifelt, wenn einen die Angst bestiegen hat und nicht mehr hinunter will. Man ist aber auch glücklich, wenn einen diese Angst besteigt, denn – das ist die Kehrseite der Angst – sie verschont uns davor, uns mit der Welt stärker zu konfrontieren als die Welt es uns vorschreiben möchte. Sie hat uns aber nichts vorzuschreiben. Vielleicht müssen wir deshalb mit dieser Angst leben, auch wenn sie eine Qual ist. Vielleicht ist die Angst unser einziger Widerstand, den wir einer brutalen, entsetzlichen Welt entgegenzusetzen haben? Wir schaden uns selbst mit diesem Rückzug vor der Welt am meisten, wir sehen zuwenig Fremdes, dem wir uns nicht aussetzen können, aber zumindest schaden wir niemand anderem. Das ist schon viel. Wir haben keinen anderen Gegner als alles. Und uns selbst noch dazu, wir selbst sind die Zugabe zu unserer eigenen Angst, aber wir bekämpfen niemanden, immerhin, denn unsere Angst läßt sich nicht bekämpfen. Sie sitzt auf uns und ist eben: nicht abzuschütteln.
Elfriede Jelinek: Angst. Störung. In: Modern Austrian Literature 3-4/2006, S. 1.
Über ihre Angstzustände (
Krankheit
,
Person
), das „Selbstzerstörerische“ und die Wut auf sich selbst aufgrund der Machtlosigkeit gegenüber der Angst. „Die Kehrseite der Angst“ sei „der Rückzug vor der Welt“ (
Außenseiter
,
Außenseiterin
).
Das
Literaturhaus Wien
veröffentlichte den Text im Rahmen der Ausstellung KEINE|ANGST vor der Angst, die anlässlich des internationalen Literaturfestivals Erich Fried Tage am
26.11.2019
eröffnet wurde. Aufgrund der durch die Corona-Pandemie erfolgten Schließung wurde die Ausstellung von
6.4.-30.6.2020
auch online gezeigt (zu sehen auf: https://erich-fried-gesellschaft.at/ausstellung-keine-angst-vor-der-angst/elfriede-jelinek/ (24.11.2025), datiert mit 6.4.2020 (= Website der digitalen Ausstellung KEINE|ANGST vor der Angst des
Literaturhaus Wien,
6.4.-30.6.2020)).