Nach einer Katastrophe wie dem Einsturz eines großen Hauses, aus dem man Kostbarkeiten entlehnen konnte: Wie soll man darüber schreiben? Katastrophen finden meist in sehr großen Räumen statt, damit man sie auch sieht, und Wasser und Erde sind oft beteiligt, auch Beben, das Wasser kommt dorthin, wo es nicht hin soll, die Erde geht, wohin sie nicht soll und umgekehrt. Nichts bleibt an seinem Platz. Daß keinem seine Gestalt bleibt, ist auch schon vorgekommen. Was war, ist nicht mehr, was ist, war nie. Was wird kommen? Das Wasser über die Erde, die Erde unter das Wasser. Land unter! Oder umgekehrt. Man teilt Wasser und Erde ihre Rollen zu, in reiner Willkür, aber sie sind nicht damit zufrieden, denn sie wollen übergreifend wirksam werden, und das führt eben zu Übergriffen aufeinander. Diese Wanderer, ich meine, das Wasser ist fürs Wandern ausgerüstet, das nicht nur des Müllers Lust ist, aber die Erde braucht darin Nachhilfe, damit sie sich endlich einmal bewegt. Man nennt das Erdbewegungen. Es muß meist gegraben oder aufgehäuft werden. Sie soll, wie das Zahnfleisch die Zähne, die Bauten festhalten, aber wie das Zahnfleisch läßt die Erde dabei manchmal nach. Dieser Erdnachlaß ist kein Rabatt für Bauwerke, im Gegenteil, er kann ihr Untergang sein. Wie darüber schreiben? Wie ein Wandersmann, ein Müllersbursch, der von einem Element ins andre wechselt, auch wenn man gar kein Mann ist? Dieser Eine Sturz war schon Vergangenheit, als ich über ihn zu schreiben versucht habe. Damit ist er in die Gegenwart geschwappt, mit Hilfe des Wassers, und wie das Wasser dem Bauwerk die Erde entzogen hat, so hat die Gegenwart damals die Zukunft verschluckt. Die wird jetzt eine andere sein. Dieses Bauwerk wird es nicht mehr geben, vielleicht ein anderes, ich weiß nicht, was geplant ist, dieses aber nicht mehr. Das Erdfleisch hat sich geöffnet, für wen, für was? Was hat es geschluckt und wofür hat es sich geöffnet, für was? Für neue Bauten? Ich habe dieses vergangene Ereignis, Hand in Hand mit dem alten, dem antiken Drama, das ich auch, neben mir selbst, ja, wenn jemand Mißbrauch betreiben darf, dann ich mit mir selber!, verwendet habe, in die Gegenwart des Theaters gerissen, welches jeden Abend eine neue Gegenwart ist.
Elfriede Jelinek: Anmerkungen zu „Ein Sturz“ . In: Schauspiel Köln (Hg.): Schauspiel Köln Werkschau 2007-2013. Intendanz Karin Beier. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2013, S. 262.
Der Text ist als Faksimile eines E-Mails von Jelinek abgebildet. Zu ihrem Theatertext
Ein Sturz
(2010), der sich mit dem Einsturz des historischen Archivs in Köln auseinandersetzt. Über die
Katastrophe
, die keine Naturkatastrophe gewesen sei, und die Bewegungen von Wasser und Erde, die dabei auftreten (
Natur
). Sie habe dieses vergangene Ereignis in die Gegenwart des Theaters gerissen und gleichzeitig habe sie „die Zukunft abgesperrt und das Ereignis in die Unbeweglichkeit, die Isolation getrieben, um es sich von allen Seiten anschauen und dann festnageln zu können“.