„Das Werk“: In Kaprun steht auch eins der größten Speicherkraftwerke der Welt, eine fast beispiellose Herausforderung der Natur an die Technik,
sich über sie zu setzen, die Wasser in drei gigantischen Stauseen zu fassen und in die Turbinen zu werfen, damit das „Land am Strome“ (Bundeshymne)
mit Strom versorgt werden kann. Die Herausforderung des Gebirges, es zu melken, um Maschinen anzutreiben und die Technik voranzubringen.
Schon in den zwanziger Jahren wurde mit dem Bau begonnen, in der Nazizeit wurde (Spatenstich: Hermann Göring)
intensiv weitergebaut, zuerst mit Freiwilligen, dann mit Zwangsarbeitern und schließlich auch mit Kriegsgefangenen, vor allem Russen. Die Zwangsrekrutierten
wurden in allen besetzten Gebieten und im Protektorat zusammengefangen (in „Fangaktionen“), zum Teil im Osten buchstäblich aus ihren Alltagsbeschäftigungen
herausgerissen oder von ihren Dorfältesten, die eine vorgegebene Quote zu erfüllen hatten, ausgeliefert und zum Bau gezwungen. Unter extremen Bedingungen,
wie sie im Gebirge herrschen, mit unzureichender Ernährung und Ausrüstung. Die offizielle Todeszahl bei diesem Kraftwerksbau ist 160. Das sind aber nur die
Toten der Nachkriegszeit, und da waren die Arbeiter, darunter damals auch viele ehemalige Nazis, die nirgendwo sonst Arbeit gefunden hätten, schon besser ausgerüstet.
Die Zahl der Toten liegt insgesamt sehr viel höher. Ich habe in diesem Stück, das dem verstorbenen Einar Schleef gewidmet ist, versucht, etwas über „den“ Arbeiter zu schreiben. Der Sportler wie der Arbeiter sieht in den Bergen einerseits Herausforderung, andererseits Arbeitsgerät. Die einen betätigen sich zum Spaß an den Bergen (und können schrecklich scheitern), die anderen vollbringen ein monströs-gigantisches Aufbauwerk. Ein Gutteil der österreichischen Identität nach dem Krieg, als das Land rasch wieder für frei und unschuldig erklärt wurde, beruhte auf dieser technischen Großleistung. Kaprun wurde mit Geldern des Marshall-Plans im Jahr des Staatsvertrags 1955 fertiggestellt und zog einen langen Rattenschwanz an nationalen Mythen hinter sich her, die aber buchstäblich auf den Gebeinen und der Ausbeutung von Getöteten beruhten, und die Getöteten wurden der Natur geopfert, sehr viele starben ja durch Lawinen. Sie starben direkt wie indirekt durch die Natur, während die Gletscherbahntouristen durch die Technik in der Natur starben.
aus: Elfriede Jelinek: Nachbemerkung .
In: SB In den Alpen 2002, S. 253-259, S. 257-258.
Das Werk , das Gegenstück zu Jelineks Theatertext
In den Alpen (2002)
, thematisiert den Bau des Speicherkraftwerks Kaprun, das zu einem Symbol des österreichischen Wiederaufbaus nach 1945 wurde (
Österreich
,
Politik
). Der seit den 1920er Jahren in Angriff genommene Bau, dessen Spatenstich 1938 durch
Hermann Göring
erfolgte, wurde mithilfe von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern errichtet. 1956, ein Jahr nach der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags, wurde das Kraftwerk fertiggestellt und eröffnet.
Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes vorangestellt:
„Bitte jetzt vor den Vorhang:
Ernst Jünger
,
Wilhelm Müller
(der vom
Schubert
),
Hermann Grengg
und sein Tauernwerk,
Oswald Spengler
,
Clemens M. Hutter
und seine Geschichte eines Erfolgs,
Euripides
und seine Troerinnen (übers.:
Kurt Steinmann
) und danke,
Margit Reiter
“
Das Stück ist
Einar Schleef
gewidmet, der Jelineks Theatertext
Ein Sportstück (1998)
am
Wiener Burgtheater
uraufgeführt hatte und auch Das Werk inszenieren sollte, jedoch zuvor starb. Der Text ist in zwei Teile und einen Epilog gegliedert, lange Teile, auf Gruppen aufgeteilte Texte und chorische Passagen wechseln einander ab. Gesprochen werden die Passagen von SprecherInnen, die Namen aus Märchen und Kinderbüchern haben, wie Heidi und Geißenpeter, Hänsel und Tretel, oder als Personifizierungen von Natur wie Baum, Schneeflöckchen und Weißröckchen ausgewiesen sind. Der Epilog wird von Müttern (
Mutter
) gesprochen, die um ihre verstorbenen Söhne trauern.
Im Zusammenhang mit dem Bau des Kapruner Speicherkraftwerks als Symbol des wiedererrichteten und nur scheinbar unschuldigen Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg (
Vergangenheitsbewältigung
) thematisiert der Text u.a. die Beherrschung von
Natur
durch
Technik
zum Zwecke der Profitmaximierung (
Kapitalismus
) sowie die
Ausbeutung
der
Arbeiter
und lenkt den Blick auf die Opfer des Kraftwerkbaus: die Kriegsgefangenen zur Zeit des
Nationalsozialismus
, die als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Intertexte, die u.a. verarbeitet wurden, sind
Ernst Jüngers
Der Arbeiter (1932), Das Tauernkraftwerk Kaprun (2002) von
Margit Reiter
,
Clemens M. Hutters
Kaprun. Geschichte eines Erfolgs (1994),
Hermann Grenggs
Das Tauernwerk (1961),
Oswald Spenglers
Der Untergang des Abendlandes (1923) und Die Troerinnen von
Euripides
(
Antike
).