Der tausendjährige Posten oder Der Germanist
Programmheft zur Uraufführung am Theater und Orchester Heidelberg, 2012
Programmheft zur Uraufführung am Theater und Orchester Heidelberg, 2012
Der vierjährige Posten (D 190), Ein Singspiel in einem Aufzuge von
Theodor Körner
, Musik von
Franz Schubert
, 1815; Die Zwillingsbrüder (D 647), Singspiel in einem Akt, nach dem Französischen von
Georg Ernst v. Hoffmann
, Musik von
Franz Schubert
, 1819
Prof. Dr. Hans Schall / SS Hauptsturmführer Schaal, ein aufrechter alter Mann (Tenor); Lieschen Schall, seine Frau (Sopran); Prof. Dr. Walther Spieß, ein älterer Herr, berstend vor Tatendurst (Bass); Ulrich Viet, ein etwas lethargisch wirkender Journalist, typischer Veteran der Studentenbewegung, hält äußerlich immer noch an den alten Gebräuchen der 68er fest (Tenor); Prof. Dr. Schulze, ein Freund in mittleren Jahren (Bass); ein paar Nebenfiguren, z.B. Trude, Frau Schalls Freundin, etc., Chor.
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, 8 erste Violinen, 6 zweite Violinen, 4 Bratschen, 3 Violoncelli, 2 Kontrabässe.
Jelinek, Elfriede
:
Der tausendjährige Posten oder Der Germanist. http://www.elfriedejelinek.com/fposten.html (15.7.2014)
1.12.2003
(= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2003, Theatertexte).
Jelineks Essay
Ungebärdige Wege, zu spätes Begehen (1997)
Schall (ruhig): Ich habe Hans Schaal gekannt. Natürlich. Er hatte am selben Tag
Geburtstag wie ich, er ist im selben Dorf wie ich auf die Welt gekommen, und
beide erhielten wir den Namen Hans. Aber Hans Schaal ist tot. Er starb am letzten
Kriegstag. Man hat sogar gesehen, wie er erschossen wurde. Sein Leichnam wurde
niemals gefunden, aber er ist tot. Wir sollten die Toten in Frieden ruhen lassen,
Lieschen. Ich bin fertig, wir können gehen. Walther, du erzählst ihnen, daß du Hans
Schall damals gekannt hast und daß er kein Freund der Nazis gewesen ist. Innere
Emigration und so weiter und so fort. Namen sind ohnehin Schall und Rauch. Walther: Nein, nein. Jetzt müssen wir schon eine neue Taktik finden, mein lieber
Hans. Du mußt dich zu allem bekennen. Du mußt dich dem stellen. Du mußt
Bedauern zeigen. Wolle den Wandel, wie Rilke sagt! Aus dem SS-Mann Schaal wurde
der Demokrat Schall. Du bist ein anderer geworden! Das ist wie mit dem guten und
dem bösen Zwilling. Es war Schaal, der es war! Nicht du! Er wars! [...] Lieschen: Ich hatte gehört, er sei tot. Die Roten hätten ihn erschossen. Ich zog ein
schwarzes Kleid an. Ich verlor jedes Interesse an meinem Kind. Ich verwandelte
mich in eine Säule aus salzigen Tränen. Und dann klopfte es an der Tür. Ich öffnete.
„Darf ich mich vorstellen: Hans Schall“, sagte er. Er war in Zivil. Mein Liebster!
Sein Haar hatte er tagelang nicht mehr gekämmt. Wir mußten uns eben daran
gewöhnen. Schalll, nicht Schaaal! Ja, seine Identität zu wechseln, das ist wahrlich kein
Honiglecken.
Jelinek schrieb das Libretto, das auf den beiden
Schubert
-Singspielen Der vierjährige Posten und Die Zwillingsbrüder beruht, gemeinsam mit
Irene Dische
.
Dische
hat die beiden Werke miteinander kombiniert, Jelinek
Disches
englische Dialog-Fassung ins Deutsche übertragen. Von Jelinek stammt auch, unter Verwendung von Passagen des Originaltextes, die Bearbeitung der Gesangsnummern. Die Abfolge der musikalischen Nummern aus den
Schubert
-Singspielen ist durchwegs beibehalten, die Werke sind so miteinander kombiniert, dass vor dem Finale des Vierjährigen Posten die Nummern der Zwillingsbrüder eingeschoben werden.
Die Handlungen sind travestiert und werden mit dem realen Fall des Germanisten
Hans Ernst Schneider
(1909-99) zusammengebracht, der zwischen 1939 und 1945 wissenschafts- und kulturpolitisch für die SS (
Nationalsozialismus
), insbesondere für das „Ahnenerbe“, arbeitete und u.a. für die Auflösung jüdischer Bibliotheken in Polen (Holocaust (
Judenvernichtung
)) zuständig war. 1945 legte er sich als
Hans Schwerte
in
Deutschland
eine neue Existenz zu und begann eine Karriere als links-liberaler Literaturwissenschaftler, 1995 flog seine Doppelexistenz aufgrund von Recherchen des niederländischen Fernsehens auf. In
Disches
und Jelineks Libretto wird gezeigt, dass Prof. Dr. Hans Schall (wie Schwerte im Stück heißt) sein vermeintliches Hauptwerk Der Ursprung der deutschen Komödie auf der Grundlage eines während des Kriegs (
Krieg
) aus dem Salon eines jüdischen Intellektuellen geraubten Manuskriptes veröffentlichte.
Wie u.a. Jelineks Theatertexte
Wolken.Heim.
oder
Totenauberg
thematisiert auch dieses Stück die Verdrängungsmechanismen im Umgang mit der NS-Vergangenheit (
Vergangenheitsbewältigung
) und die Verantwortung der Intellektuellen für die Verbrechen in dieser Zeit.