Fremd bin ich

Theater heute 8/2011

Abdrucke

auch in:

 

Dankesrede zur Verleihung des

Mül­hei­mer Dra­ma­ti­ker­prei­ses

2011; bei der Preisverleihung in Mülheim am 26.6.2011 wurde die Dankesrede, von Jelinek gelesen, per Video eingespielt; über das Leben und Sprechen „im Stillstand“ und

Schu­berts

Winterreise im Kontext ihres Theatertextes

Win­ter­rei­se

(2011), der den „eigenen Stillstand in Worten des Wanderers zu fassen“ versuche (

Thea­ter­äs­the­tik

).

 

Was erfährt man im Stillstand? Das, was man von seinem Standort aus ringsherum sehen kann? Das, was man schon weiß? Kann man es sagen, wenn man nicht mehr vom Fleck kommt? Wenn es keinen Ausweg aus dem Stillstand gibt, kann man höchstens noch das Vergessen erfahren, aber darüber hat man keine Gewalt. Macht hat man sowieso keine. Ist der Stillstand schon ein Nach-Hause-Kommen? Ist man angekommen, oder kann man noch hoffen wegzukommen? Ich glaube, gerade in diesem Stillstehen, aus dem heraus ich schreibe, sind da vielleicht Wurzeln, die mich auf und an der Stelle festhalten, wie sie jeder merkt, wenn er versucht, von dem Ort wegzukommen, den er sein Zuhause nennt. Die „Winterreise“, die ich früher oft begleitet habe – ich glaube, kein Werk der Kunst hat mir je mehr bedeutet – aber was sage ich da?, ich hätte eine Reise begleitet, die schon aus Prinzip immer unbegleitet sein muß?, ich habe sie natürlich bloß auf dem Klavier begleitet, die „Winterreise“ Wilhelm Müller/Franz Schuberts also ist ja ein Werk der Heimatlosigkeit, aus der man nicht aufbricht und in die man nicht zurückkehrt.

aus: Elfriede Jelinek: Fremd bin ich . In: Theater heute 8/2011, S. 60-61, S. 60.

 

Irgendwas kommt in meinen Stücken immer beredt zum Ausdruck, aber wer beredet da was und wie? In meiner Winterreise wird vor dieser Sprechenden hier die Landschaft vorbeigezogen. Eine spricht im Stillstand. [...] Was erfährt man im Stillstand? Das, was man von seinem Standort aus ringsherum sehen kann? Das, was man schon weiß? Kann man es sagen, wenn man nicht mehr vom Fleck kommt? Wenn es keinen Ausweg aus dem Stillstand gibt, kann man höchstens noch das Vergessen erfahren, aber darüber hat man keine Gewalt. Macht hat man sowieso keine. Ist der Stillstand schon ein Nach-Hause-Kommen? Ist man angekommen, oder kann man noch hoffen wegzukommen? Ich glaube, gerade in diesem Stillstehen, aus dem heraus ich schreibe, sind da vielleicht Wurzeln, die mich auf und an der Stelle festhalten, wie sie jeder merkt, wenn er versucht, von dem Ort wegzukommen, den er sein Zuhause nennt. Die Winterreise, die ich früher oft begleitet habe – ich glaube, kein Werk der Kunst hat mir je mehr bedeutet – aber was sage ich da?, ich hätte eine Reise begleitet, die schon aus Prinzip immer unbegleitet sein muß?, ich habe sie natürlich bloß auf dem Klavier begleitet, die „Winterreise“ Wilhelm Müller/Franz Schubert also ist ja ein Werk der Heimatlosigkeit, aus der man nicht aufbricht und in die man nicht zurückkehrt. Der Text eines Deserteurs (der Müller war), den die „Krähen“, diese wunderlichen Tiere, die Spitzel, die den ausspionieren, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt hat, verfolgen, der Text eines Dichters, Wilhelm Müller, der aber wiederum der Träger für die Musik ist, das Gerüst, etwas, das die Musik hält und von der Musik gehalten wird, die ja ein Fortschreiten in der Zeit ist, auch so ein Fortschreiten im Stehenbleiben, der Sänger steht, der Begleiter sitzt, sie rühren sich nicht vom Fleck, das Klavier ist schwer, wenn man es bewegen will, während die Musik es ist, welche die Menschen bewegt, das ist einfacher, die innere Bewegung ist einfacher als die äußere, das muß ich mir zumindest einreden, da es ein Außen für mich ja nur selten gibt, ja, also, was wollte ich gleich noch sagen?, ich hätte es auch gleich sagen können: Dieser Text eines Deserteurs also, der zu seinem Liebchen will, denkt seine eigene Heimatlosigkeit vor sich hin. Er geht, um von der Truppe, zu der er gehört, wegzukommen. Er geht nicht, um irgendwohin zu kommen, er geht, um fortzukommen. Und er ist dabei in sich selbst vergessen. [...] Solche welt- und menschheitsgeschichtliche Heimatlosigkeit versuche ich erst gar nicht zu fassen. Ich beschreibe die Reise im Stillstand. Aber es ist alles Stillstand, auch wenn sich die Menschen scheinbar bewegen. Hinter ihnen ragt das Dunkle auf, wie eine Bühnenkulisse, der sie nicht entkommen können.

aus: Elfriede Jelinek: Fremd bin ich. In: Theater heute 8/2011, S. 60-61.

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