Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder

textgrundlage

Regieanweisungen aus Jelineks Theatertext

Der Tod und das Mäd­chen V (Die Wand) (2003)

sowie der von Jelinek an den Schluss ihres Stücks gesetzte Abschnitt aus der Theogonie des Hesiod

Komposition

textfassung und Komposition |

Rolf Riehm

Musikalische Besetzung

Sopran, Sprecher (über Zuspielband) und Orchester.

Abdruck des Textes

Riehm, Rolf

:

Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder. In: Programm der Kasseler Musiktage zu Das Göttliche im Alltäglichen

2006

.

Aufführungen

UA

  • UA | 27.10.2006

    Mar­tins­kir­che Kas­sel

    (im Rahmen des Eröffnungskonzerts der Kasseler Musiktage)

    Ju­li­en Sa­lem­kour

  •  

    Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder war ein Auftragswerk der Kasseler Musiktage 2006. Wie auch in seiner Komposition

    Die schreck­lich-ge­wal­ti­gen Kin­der

    verarbeitete

    Riehm

    darin Passagen aus Jelineks Theatertext

    Der Tod und das Mäd­chen V (Die Wand)

    . Es handelt sich dabei um Regieanweisungen, die sich auf die Schlachtung eines Widders durch Sylvia und Ingeborg beziehen, und um die von Jelinek verarbeitete Passage aus der Theogonie des

    He­si­od

    über die Kastration des Uranos durch seinen Sohn Kronos. Während die Regieanweisungen per Zuspielband eingespielt werden, sind die Hesiod-Sequenzen für Sopran komponiert.

     

    Ich habe wieder einen Text von Elfriede Jelinek verwendet, wie schon in „Die schrecklich-gewaltigen Kinder“ von 2003. Und zwar wieder aus „Der Tod und das Mädchen 5“. Und auch wieder den Abschnitt aus der Theogonie (Götter- und Weltenschöpfung) von Hesiod, aber auch einigen Text davor. Der Text davor sind die Regieanweisungen, aus denen aber der Verlauf der Handlung deutlich hervorgeht. Ein Sprecher über Lautsprecherzuspielung spricht diese Regieanweisungen. Aber die Handelnden sind nicht diejenigen des Textes, nämlich Ingeborg (= Bachmann) und Sylvia (= Plath), sondern die „Handlung“ spielt sich im Orchester ab.

    Und zwar ist dies eine musikalische Narration von gewissermaßen katastrophischem Zuschnitt. Kompositorische Konzeption: von den abgründigen Zuständen handeln, in denen wir uns gegenwärtig befinden, die wir durchschauen und bewältigen wollen, denen wir uns hilflos ausgesetzt sehen.

    Die Sicherheit der Wahrnehmung ist ebenso verloren gegangen wie die Zuversicht in die konstruktiven Mittel. Das Orchester bricht in regressive Paniken aus, klammert sich an krude Habseligkeiten (Tonleitern, einfache Akkorde...), „irrwitzige Verweise“ auf Bach, Mozart, Brahms, verschlüsselt: „Mädchen von Guantanamo“; wie Strohhalme.

    Mit den „irrwitzigen Verweisen“ auf frühere Musik kommt ein Zug von Regression in das Stück. Zurück in ein „früheres“ Stadium, in dem die Dinge noch handhabbar waren, das Verlangen nach einem befriedeten Zustand: „unbeschädigte“ (= unbehauene, unbelastete) Figuren.

    Alles natürlich verzagte, unzulängliche Mittel.

    Was den erneuten Rückgriff auf den Mythos anlangt (Hesiod, Fortschreibung durch Jelinek), teile ich die Haltung vieler Autoren, Filmemacher, Theatermenschen etc.: Wir müssen uns die alten Geschichten wieder und wieder erzählen, um uns in Zeiten der Verwirrung angesichts einer in Stücke gehenden Gegenwart über die Erfahrungen klar zu werden, die wir über die Zeiten hin gemacht haben. Wie hat man solche Verwirrung gemanagt, welche Bilder dafür entwickelt, wie das alles erzählt?

    Eine wunderbare Bemerkung von Alexander Kluge klingt mir im Ohr. Über solche Erzählungen, sagt er, vernetzen wir uns, versichern wir uns unseres Eigensinnes und wir trösten uns.

    Während der Arbeit kochte wieder die Diskussion um das Gefangenenlager auf Guantanamo hoch. [...] Die Sängerin tastet behutsam die Klangraumlagen ab, es erklingt aber der schreckliche Bericht über die Kinder von Erde und Himmel (Hesiod). Wer sind diese Kinder? Das sind wir, die wir leiden und leiden machen.

    aus: Rolf Riehm: Überlegungen zu „Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder“. In: Programm der Kasseler Musiktage zu Das Göttliche im Alltäglichen , 2006.

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