Meine Gedichte – nicht mehr davon!

Abdrucke

auch in:

 

Über ihre erste Buchpublikation, den Lyrikband

Li­sas Schat­ten

(1967). Ihre frühe Lyrik, von der sie nun nichts mehr wissen wolle, sei vom Expressionismus beeinflusst gewesen (

Schreib­tra­di­ti­on

). Die von der Lyrik geforderte Prägnanz und Dichte widerstrebe ihr. Sie schreibe lieber längere Texte, um die Lesenden länger begleiten zu können und weil Prosa- und Theatertexte die Möglichkeit der Fortschreibung böten (

Schreib­ver­fah­ren

).

 

Ich habe bei meinen Gedichten sehr vage die Möglichkeit gesehen, daß sich etwas bündeln und dann irgendwo auftreffen könnte, und das war mir bald zuwider, diese Vorstellung ist mir gegen den Strich gegangen. Offenbar schreibe ich lange Texte (eben oft zu lange!), um etwas an einem Lesenden länger zu begleiten, in ein Denken hinein (obwohl ich selber nur sehr schlecht denken kann), jedenfalls in einen Raum, den ich nicht definieren kann. Aber ein Gedicht ist kein Raum, es ist ein Plätzchen, nicht eins, das man essen, sondern eins, auf dem man grade noch stehen kann. Bitte, es ist ja auch gut, wenn man irgendwo einen Platz zum Stehen hat, aber ich suche die Eskalation. Vielleicht bin ich einfach auch zu ungeduldig, an einem Gedicht zu feilen. [...] Die Prosa, das Theaterstück bieten mir die Möglichkeit, etwas nicht so zu lassen, wie es ist, weil man es fort-schreiben kann, und man kann immer etwas gutmachen (nicht: gut machen!), was man an einem Text verfehlt, gefehlt hat. Und am Schluß ist es dann der ganze Text, der fehlt, indem er da ist. Bei einem Gedicht geht das nicht, weil es selbst einfach da sein muß, es kann sich nicht vertreten lassen.

aus: Elfriede Jelinek: Meine Gedichte – nicht mehr davon! In: Deckert, Renatus (Hg.): Das erste Buch. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007, S. 115-116.

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