Elfriede Jelinek: Wenn Eurydike erst wirklich da ist, wenn sie weg ist, also ihr Sein erst gewinnt,
indem sie darauf verzichtet, hat sie die Berechtigung zu irgendetwas, das niemand kennt, das nur sie kennen kann.
Sie ist ja nichts Halbes und nichts Ganzes. Dafür haben sich die Phantasien der größten Künstler an ihr abgearbeitet, um sie zu erschaffen und,
nach ihrem Tod, wieder neu zu erschaffen, für Orpheus, während sie mit ihrem Verschwinden beschäftigt ist. Davor kommen noch die zähen
Verhandlungen mit den Göttern der Unterwelt. Der Dreh- und Angelpunkt ist Orpheus, der seine Frau sozusagen erst wirklich erschafft,
mit der Absicht, daß sie sich wieder ereignen kann (und natürlich für ihn!), aber in Wirklichkeit läßt er sie endgültig verschwinden.
Sonst gäbe es keinen Orpheus-Mythos, der ja im Verschwinden, Wieder-Zurückholen und erneutem Verschwinden besteht. Vielleicht ist es der einzige Weg
eines Wesens, das sich nur an einem anderen, dem Mann, messen lassen kann, da es ja selbst nichts ist, im Verschwinden erst wirklich da zu sein
(eines Wesens also, das erst im Blick des Mannes überhaupt entsteht, woher und wozu denn sonst all die Schönheitsoperationen, die aufgespritzten
Lippen, die gepolsterten Brüste, das viele abgesaugte Fett, das inzwischen wahrscheinlich einen Teil der Menschheit ernähren könnte? Um überhaupt
erst erschaffen zu werden, also: sich selbst zu erschaffen. Da sind schöne Kleider noch das Harmloseste, die tun wenigstens nicht weh).
Eine schöne Aufgabe für Zwischenwesen, wie Nymphen es sind. Mir fällt dazu auch Undine ein. „Undine geht“ hat die Bachmann geschrieben.
Oder immer wieder aufzutauchen in diesem Verschwinden. Orpheus allerdings wird es kein zweites Mal schaffen, da runterzukommen.
Er wird von seinen weiblichen Fans zerrissen. Die lustigerweise ihn, den Star, letztlich auch wieder erschaffen haben.
Da beißt sich die Katze in den Schwanz.
aus: Pia Janke: o. T. , 16.5.2014.
Jelinek verfasste Schatten (Eurydike sagt) auf Anregung der
Philharmonie Essen
für den Themenabend Ein Sommernachtstraum: „Blicke nicht zurück“ . In der Auseinandersetzung mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike wurden drei (musik-)theatrale Formen zusammengeführt:
Claudio Monteverdis
Oper L’Orfeo , die Uraufführung von Schatten (Eurydike sagt) und das Ballett Cherché, trouvé, perdu von
Patrick Delcroix
.
Der Text wird durch Leerzeilen in 17 Abschnitte gegliedert und enthält keine Regieanweisungen oder Angaben zu Schauplätzen. Bereits im Titel wird durch (Eurydike sagt) ein Bezug zum antiken Mythos (
Antike
) von Orpheus und Eurydike hergestellt. Der gesamte Text ist in Ich-Form verfasst.
Adelbert von Chamisso
: Peter Schlemihls wundersame Geschichte
Sigmund Freud
, absolut alles. Das haben Sie dann davon.
Ovid
: Metamorphosen“
Im Text wird – ausgehend von Eurydikes
Tod
durch einen Schlangenbiss und einer (mythisch nicht-tradierten) Sicht auf den gescheiterten Aufstieg aus dem Hades – die Existenz einer schreibenden und
Mode
-besessenen
Frau
(
Künstlerin
) in ihrer Abhängigkeit von einem possessiven Popstar-Gatten (
Mann
,
Musik
) thematisiert, der, begleitet von Groupies und unfähig zu produktiver Trauer, seine Objektbesetzung nicht aufgeben kann. Er versucht sie mittels seines Gesanges aus dem Schattenreich zu holen, doch durch seinen Versuch, den Moment der erneuten „Verkörperung“ seiner Frau mit seinem blitzenden Handy festzuhalten, geht sie ihm verloren. Am Ende zieht Eurydike ihre Existenz als Tote, als Schatten ohne
Körper
, dem Leben an der Seite ihres Mannes vor.