Stadt ohne alles

Abdrucke

Je­li­nek, El­frie­de

:

Stadt ohne alles. In: Booklet zur DVD Breslauer, Hans Karl: Die Stadt ohne Juden

Mün­chen

:

Ar­te Edi­ti­on

2020

, S. 4-13

(auf Deutsch und Englisch, Ü:

P. J. Blu­men­thal

, Titel: City without everything , S. 14-22)

.

 

Verfasst für das Booklet zur DVD-Edition der restaurierten Fassung von

Hans Karl Bres­lau­ers

Stummfilm Die Stadt ohne Juden (1924) nach dem gleichnamigen Roman

Hu­go Bet­tau­ers

.

Ol­ga Neu­wirth

komponierte dafür die Filmmusik. Anhand der im Film gezeigten antisemitischen Klischees (

An­ti­se­mi­tis­mus

,

Ju­den­tum

) über das Wirken politischer Machtverhältnisse (

Po­li­tik

) auf gesellschaftliche Dynamiken (

Ge­sell­schaft

) wie die Ausgrenzung marginalisierter Gruppen (

Frem­den­feind­lich­keit

). Auch über die spezifische Komik, die sich aus einer Differenz zum „Noch-Nicht-Wissen“ ergibt, sowie weitere Bedeutungsebenen, die in der Revision des Films durch das heutige Wissen über den

Na­tio­nal­so­zia­lis­mus

(

Ju­den­ver­nich­tung

) entstehen.

 

Wie kann noch Komik über Juden gelingen nach dem Wissen von der totalen Vernichtung der europäischen Judenheit? Die Komik entsteht, genau, sie entsteht aus dem Nichtwissen, dem Noch-Nicht-Wissen. Wir können nichts dafür. Wenn wir das gewußt hätten! Aus der Differenz zwischen Wissen und Wissen vielleicht, dort könnte etwas auftauchen, wir sehen noch nicht recht, was, dieser Film weiß mehr als er weiß, weil er nicht wissen kann, was er weiß. Er fährt zweigleisig neben sich selbst her. Wir wissen mehr, ich sage nicht: Wir wissen heute noch mehr. Weil wir es schon immer gewußt haben konnten. Wenn es ein Film wußte, Mitte der zwanziger Jahre, dann war das mehr, als er wissen konnte, weil er es in seinem Ungewußten eben schon wußte. Und danach verloren die Menschen kollektiv das Gewußtsein. Und das Wissen, das wir inzwischen haben (und, ja, immer gehabt haben, auch wenn es nicht immer unter uns geweilt hat, sondern manchmal in der Sommerfrische, zur Erholung), nützt uns heute nichts, wenn wir buchstäblich drüberfahren.

aus: Elfriede Jelinek: Stadt ohne alles . In: booklet zur DVD Breslauer, Hans Karl: Die Stadt ohne Juden. München: Arte Edition 2020, S. 4-13, S. 4-5.

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