Das Hörspiel „Die Ausgesperrten“ entstand gleichzeitig mit dem gleichnamigen Roman, oder, besser gesagt, das Hörspiel war noch vor dem Roman fertig. Es war beinahe eine Bestandsaufnahme, aus der sich dann der Roman gespeist hat. Eine kriminalistische Spurensuche gewissermaßen, um das Material, die Indizien dieses Falles zu sortieren und in ein Ordnungssystem zu bringen, das, wie ein Koordinatensystem oder eine Menge von Eisenfeilspänen unter dem Magneten der Geschichte… mal sehen, zu welchen Mustern sie auseinanderfallen und wohin sie zeigen werden… die herrschenden Zustände am Ende der fünfziger Jahre, knapp vor Beginn der Jugendkultur und, noch später, der Politisierung der Studenten skizzieren sollte (die Beatles sind 1960 zum ersten Mal aufgetreten, und danach war nichts mehr, wie es vorher gewesen war, die Nachkriegszeit war zu Ende gegangen). Der politische Anarchismus, die tobende Verzweiflung der RAF-Attentäter haben hier ihre Wurzeln, im sogenannten Wiederaufbau nach dem Krieg. Die Verhältnisse waren noch nicht verschwommen, durch Wohlstandsbäuche weich wattiert; mit brutaler Härte sind die Kriegsgewinnler, aber auch die alten Sozialdemokraten mit ihren ewig enttäuschten Hoffnungen auf Verbesserung des Systems sowie die verelendeten Mittelschichten, die, in ihrer Hoffnung auf Aufstieg und ihrer Angst vor dem endgültigen Abstieg schon einmal das Ersatzklassenbewußtsein des Faschismus so brutal hervorgebracht haben, aufeinandergeprallt. Und die jungen Leute finden noch keine Studentenbewegung, kein swinging London und keine Carnaby Street vor, sondern nur die Aufstiegsmentalität ihrer Eltern, die von ihrer politischen Schuld im Dritten Reich nichts mehr hören und wissen wollen. Die Geschichte der „Ausgesperrten“ beruht auf einem wahren Kriminalfall, der sich allerdings erst Mitte der sechziger Jahre in Wien zugetragen hat. Ein Jugendlicher rottet seine ganze Familie aus. Das ist die Tatsache. Alles andere beruht auf meinen Spekulationen. Eine Jugendbande wie die hier beschriebene mag es gegeben haben oder auch nicht. Der Magnet senkt sich auf die Eisenspäne herab, sie springen auseinander. Die Muster ordnen sich. Die Schüler lesen Sartre und Bataille im Original, man lernt schließlich Französisch in der Schule. Und es ist kein Zufall, daß die frühen Sartre-Übersetzungen ins Deutsche bereits den brisanten existenzialistischen Inhalt manipuliert und, zum Beispiel, aus der herrschenden Klasse sogenannte „führende Gesellschaftsschichten“ gemacht haben. Der Wiederaufbau schwingt die Hämmer, aber nicht die Sicheln. Und es stellt sich heraus, daß, bei allem anarchischen Tun, beim Überfall auf Leute mit dicken Brieftaschen jeder der Jugendlichen letztlich nur daran denkt, sein eigenes Los zu verbessern.
aus: Elfriede Jelinek: Vorspruch zum Hörspiel „Die Ausgesperrten“ . Typoskript, SDR 1990.
Dieser und die folgenden Vorsprüche wurden, gesprochen von Jelinek, anlässlich der
Elfriede Jelinek Hörspiel-Retrospektive
im Süddeutschen Rundfunk 1989/1990 vor den einzelnen Hörspielen gesendet; über die Entstehungskontexte des Hörspieltexts im Zusammenhang mit ihrem Roman
Die Ausgesperrten
, die
Gewalt
der RAF (
Rote-Armee-Fraktion
) und der jungen Generation, deren „Wurzeln“ sie „im sogenannten Wiederaufbau nach dem Krieg“ (
Krieg
) sieht.