Entweder vergisst der Künstler sich, als Person, ganz, oder aber alles, was der Künstler als sein Ich zusammenfasst und zusammenrafft,
nicht nur um sich selbst zu erkennen, sondern um, gerade indem er etwas von sich weiß, über sich hinaus etwas sagen zu können, fließt in seine Arbeit ein.
Man kann nur hoffen, dass das stimmt, was man von sich weiß. Denn was man nicht erlebt hat, das muss nachher, indem man es beschreibt, noch einmal,
und zwar richtig!, erlebt werden, und es wird erst in diesem Noch Einmal wirklich unmittelbar und wahr. Damit wird, was ein Künstler ist, wie ein Geldbetrag,
und zwar immer aufs eigene Konto, überwiesen, sich selbst und seinem Bewusstsein und seinem Gewissen, der Künstler darf gleichzeitig wahnhaft bleiben,
aber er muss sich selbst, und dafür darf er Hilfe in Anspruch nehmen, die Hilfe eines Analytikers vielleicht, dem drohenden Wahn immer wieder zu entreißen suchen.
Und damit ist er nun letzten Endes wieder vollkommen allein, vielleicht alleiner als der, der sich nicht meint und sich nicht sucht und sich in den Wahn hineinwirft wie in ausgebreitete Arme.
aus: Elfriede Jelinek: Vortrag zur Wiedereröffnung der psychoanalytischen Ambulanz in Wien .
In: RISS 55 (2002/III), S. 93-102, S. 101-102.
Festrede, gehalten am 12.10.1999 im psychoanalytischen Ambulatorium Wien zu dessen Eröffnung. Über die Probleme der Existenz als KünstlerIn (
Künstler
,
Künstlerin
); die
Psychoanalyse
als Möglichkeit des Erkenntnisgewinns darüber, „Was Da Spricht“, denn der Künstler arbeitet „nicht nur, um sich selbst zu erkennen, sondern um, gerade indem er etwas von sich weiß, über sich hinaus etwas sagen zu können.“ Weiters über das Spannungsfeld von Ich-Bewusstsein und Massenwahn unter Bezugnahme auf
Elias Canetti
,
Robert Walser
und
Hermann Brochs
Massenwahn-Theorie.