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(Noras Boudoir. Tangomusik aus den zwanziger Jahren. )
Annemarie: Ich kann mir das gar nicht ansehn… das muß den Herren ja entsetzlich wehe tun!
Nora: Die wollen, daß es ihnen wehtut, Annemarie!
Annemarie: Daß sich von Natur aus wohlhabende Männer so zurichten lassen…
Sie sollten lieber Ihre Kinder schlagen, Nora, wenn Sie schon etwas schlagen müssen. Das ist die Natur der Frau.
Nora: Frau und Natur ergeben nicht notwendigerweise zusammen ein Naturwesen, Annemarie. Man kann beide auch trennen.
(
Türklingel, Pause)
Annemarie: (geht hinaus) Mein Gott, der Herr Helmer! (undeutliche Stimmen, Annemarie atemlos herein) Frau Nora! Der Herr Helmer ist da! Sollten sich nach so langer Zeit beide Hälften eines Ehepaars wieder zu einem Ganzen zusammenfinden?
Nora: Ich weiß, wer da ist, Annemarie. Rasch jetzt! Meine Maske! Stock! Gerte! Nimm mir den Umhang ab! Vorwärts! Na, mach schon.
Annemarie: Seien Sie doch verständig, meine Nora! (kurzes Gerangel, Schmerzenslaut von Annemarie, sie fällt hin)
(Pause)
Helmer: Oh, guten Abend, gnädige Frau, äh... komm her, das ist wohl schwer, wenn man ohne festen Halt im Leben steht, also haltlos ist… Darf ich mir erlauben… diese bescheidenen Blümchen… (Pause. Aufgeregt) Mein Gott, es hat schon angefangen… gleich komm ich, gleich! Und sage bitte zu mir: so, mein Sklave, jetzt habe ich ein hübsch und fest, stramm und sadistisch ver- und zusammengeschnürtes Paket aus dir gemacht, damit deine Blutzirkulation besser funktioniert… Was für hübsche Möbel… geschmackvoll! Ich hätte sie freilich lieber in dunkel Kaukasisch-Nuß als in heller Eiche. … Aber sonst… beste Qualität… Äh, unsre Ordnung geht vom Menschen als Individuum aus. Nur in einer freien Wirtschaft kann der Mensch seine Individualität bewahren.
Nora: Knie nieder!
Helmer: Entschuldigung, gnädige Frau. Aber Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, ich meine figürlich, aber diese Maske… Wollen wir nicht vorher den Teppich wegrollen? … Ich möchte ihn nicht unnötig beschmutzen… Dann will ich bitte auch noch, daß du mich recht raffiniert knebelst, mir dann noch ein Unterhemd von dir so fest um mein Gesicht bindest, daß ich es unmöglich von selber abstreifen kann, und daß du dich dann bitte auch, nachdem ich dir wehr- und hilflos ausgeliefert bin, über mich lustig machst…
(Geräusche eines Peitschenhiebs, Schmerzenslaut Helmers)
Nora: Auf die Knie! Sofort!
Helmer: Verzeihung (Stöhnt. In der Folge steigern sich die Hiebe und das Stöhnen Helmers)
Der Hörspieltext wurde von Jelinek gegenüber dem gleichnamigen
Theatertext
wesentlich gekürzt, manche Szenen sind vollständig weggelassen, andere auf die Hälfte verringert worden. Auch die Schauplatzbeschreibungen wurden den akustischen Möglichkeiten angepasst. Der Handlungsverlauf und die Auseinandersetzung mit den Machtmechanismen in der
Gesellschaft
(
Kapitalismus
,
Patriarchat
) sowie deren Auswirkungen auf die Situation der Frauen (
Frau
), insbesondere der Arbeiterinnen, entsprechen dem Theatertext.
Wie das Stück beginnt auch das Hörspiel mit der Szene zwischen Nora und dem Personalchef, in der sich Nora, nachdem sie ihren Mann verlassen hat, um eine Anstellung als
Arbeiterin
in einer Fabrik bewirbt und aufgenommen wird. Gänzlich weggelassen wurden im Hörspiel mehrere Szenen zwischen Nora und der Sekretärin, dem Vorarbeiter und Anne sowie zwischen Nora und Weygang. Die Szenen 16 und 17 im Theatertext (Noras Erpressungsversuch von Weygang und der Auftritt Krogstads) werden im Hörspiel durch geringfügige chronologische Umschichtungen zu einer Szene zusammengeführt. Bei der akustischen Realisierung wird mit zahlreichen Geräuschen wie Maschinenlärm, Peitschenknallen oder rhythmischem Trommeln gearbeitet. Anders als in einigen frühen Hörspielen Jelineks fungieren die Musiksequenzen nicht als Unterbrechung der Handlung, sondern sind im Hintergrund des Gesprochenen zu hören. Wie auch der Theatertext endet das Hörspiel damit, dass in Helmers Radio Marschmusik ertönt, die „Anklänge an den frühen deutschen Faschismus“ aufweist und immer lauter wird.