Wer bin ich? (Who am I?, 1975)

Abdrucke

 

P. J. Blu­men­thal

, geboren in New York, lebt seit 1975 als freier Schriftsteller, Übersetzer und Journalist in München. Jelinek arbeitete mit Blumenthal auch bei ihrer Übersetzung von

Tho­mas Pyn­chons

Die En­den der Pa­ra­bel (1981)

und bei ihrem Libretto zu

Lost High­way (2003)

zusammen.

Blu­men­thal

übersetzte Jelineks Theatertext

Der Tod und das Mäd­chen I (Schnee­witt­chen)

(2001) und mehrere ihrer Essays.

Das von Jelinek übersetzte Gedicht stammt aus

P. J. Blu­men­thals

Band Why I like Hitler or unruly emotions (München: Schwartz 1975) und wurde 1983 in der Berliner Literaturzeitschrift

Lit­faß

veröffentlicht. Ausgehend von der titelgebenden Frage Wer bin ich? wird die Ausgrenzung und das Leben als

Au­ßen­sei­ter

in einer fremden

Ge­sell­schaft

aus der Perspektive eines lyrischen Ichs thematisiert und Fragen nach der eigenen Identität gestellt. Verknüpft werden diese Frage mit dem geplanten Abriss eines Hotels und den daraus resultierenden Reaktionen der Bewohner. Dem englischsprachigen Original entsprechend weist das Gedicht in der deutschen Übersetzung keine Gliederung in Strophen, sondern kurze Satzkonstruktionen auf.

 

 

Wer bin ich

Täglich
Gut tausend Untreuen planend.
Ein Fan von Intrigen,
verrückt nach Schnulzen
aus den Dreißigern.
Und manchmal aus der Liebe Geheimdienst
Den Schrecken, das Grauen herauslesend,
diesen Inhalt von gestrigen Medizinfläschchen:
Löffelweis gibt die Mama Kultur ein,
du schön kuschlig im Bett,
ein Spielzeugtöff unterm Kissen
und die kleine warme Erektion der Sicherheit
unerkannt
unter der Decke versteckt.
Eine Umarmung noch und schlaf jetzt!
Der bittre Geschmack übersetzt
in die ersten Abendträume.
Was ich für ein schlichtes Haus hielt,
ist in Wahrheit ein Hotel,
und Fremde dauernd rein raus.
Manche mit dem Tagportier,
manche mit dem Nachtportier,
während der Manager schläft
oder weg ist.
– der Besitzer wird selten gesehen – […]
Und dann ein Brief vom Eigner
aus Brasilien:
Reißt den alten Kasten nieder,
schreibt er,
das Objekt ist verkauft. […]
aus: P. J. Blumenthal: Wer bin ich? Ü: Elfriede Jelinek. In: Litfaß 28 (1983), S. 47-49, S. 47-48.

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