„Krimis sind Lebensersatz“

Nachweis

 

Jelinek spricht mit

Ja­kob Ar­jouni

über das Wesen des Kriminalromans. Sie begründet ihr Interesse an Kriminalfällen damit, dass darin „das, was Menschen ausmacht, zu einem Laserstrahl gebündelt wird“. Kritisch äußern sich beide zur Qualität vieler deutschsprachiger Kriminalromane. Weiters über den

Tod

als „gebündelte Essenz einer räuberisch-geilen, egoistischen Gesellschaft“ (

Ge­sell­schaft

).

 

Elfriede Jelinek: Im Verbrechen wird für mich das, was Menschen ausmacht, zu einem Laserstrahl gebündelt. Im Grunde fragt man sich ja, warum die Leute sich nicht schon auf der Strasse erwürgen. Die latente Aggression dazu ist ja da. Mich interessieren grosse Beispiele aus der Realität. Deshalb lese ich auch soviel Kriminalliteratur, dass es deutlich auf Kosten meiner anderen Lektüre geht. Ich lese nichts anderes. (Zu Arjouni) Für Sie scheint der Krimi ein literarisches Muster zu sein, eine Geschichte zu erzählen, bei der’s halt Tote gibt. Oder existiert da auch eine andere, eine mystische oder mythische Ebene?

Jakob Arjouni: Der Krimi ist für mich ein literarischer Rahmen. Es gibt inzwischen andere Rahmen, die mich genauso interessieren. Aber natürliche interessieren mich Morde oder kriminelle Ausbrüche, weil sie exemplarisch sind für alles, was sonst im kleineren Massstab passiert. Wenn eine Frau ihren Mann umbringt, ist das nur die letzte Stufe eines langen Prozesses. Zwei Tage vorher hat sie noch gesagt: „Ich mach dir kein Frühstück mehr“, und im Grunde war das auch ein kleiner Mord.

aus: Christian Seiler: „Krimis sind Lebensersatz“ . In: Die Weltwoche, 1.10.1992.

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