Gegen die Ordnung. Gegen die Bibliothek

Abdrucke

Je­li­nek, El­frie­de:

Gegen die Ordnung. Gegen die Bibliothek. In:

Gast­ge­ber, Chris­ti­an

u. a. (Hg.): Change! Zukunft gestalten. Festschrift für

Jo­han­na Rach­in­ger.

Wien:

Phoi­bos Ver­lag

2009

(= Biblos-Schriften 180), S. 140.

 

Für die Festschrift zum 50. Geburtstag von

Jo­han­na Rach­in­ger,

der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek. Über Bücher, Bibliotheken, ihre Abneigung gegenüber Ordnung und ihre Wertschätzung der Digitalisierung (

In­ter­net

), da dabei die Ordnung „jederzeit wieder verschwinden“ kann; von ihrer eigenen Arbeit „wird nichts übrigbleiben […] nur das, was schon da ist, darf dann bleiben. Alles darüber hinaus Gesammelte muß weg.“.

 

Ordnung erschreckt mich. Aber paradoxerweise kann ich selbst nie was wegschmeißen, auch nichts, was nach Ordnung rufen würde, das ganz besonders nicht, das kommt als letztes dran, wenn es eingeordnet werden soll. Es liegen bei mir riesige Berge am Boden. Ich glaube wirklich, das Ordnungssystem einer Bibliothek schüchtert mich ein, ja, es schreckt mich ab. Wenn ich etwas ordnen (töten?) soll, einen Stoß Papiere, dann stehe ich mit dem Stoß da wie ein unschlüssiger Raubvogel, der vorhin noch die Maus gesehen hat, aber jetzt ist sie weg; mein Hirn scheut sich, da jetzt etwas wie ein System hineinzubringen, und so lasse ich meine Beute, die ich immerhin inzwischen ergattert habe, aber was mach ich jetzt damit?, fallen, wo ich stehe. Folge: Chaos. Bibliothek dagegen bedeutet Zettelkästen (früher), Digitalisierung (jetzt). Digitalisierung schätze ich sehr, weil darin die Ordnung zwar hergestellt ist, aber jederzeit wieder verschwinden und erneut, auf Wunsch, wieder herbeigeholt und aufgebaut werden kann. Ohne Regale. Aber die Regale müssen da sein, wenn auch unsichtbar gemacht: ein Ordnungssystem, das da ist, aber es belästigt mich nicht. Ich bin fürs Netz wie geschaffen, und das Netz hat mich auch sofort eingefangen. Ich wusste sofort, als es sich zum ersten Mal über mich stülpte: Das ist es! Da will ich rein und selber verschwinden. Folgerichtig wird von meiner Arbeit nichts übrigbleiben, sie muß verschwinden, nur das, was schon da ist, darf dann bleiben. Alles darüber hinaus Gesammelte muß weg. So fördere ich ein wenig die Unordnung.

aus: Elfriede Jelinek: Gegen die Ordnung. Gegen die Bibliothek. In: Gastgeber, Christian u.a. (Hg.): Change! Zukunft gestalten. Festschrift für Johanna Rachinger. Wien: Phoibos Verlag 2009 (= Biblos-Schriften 180), S. 140.

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Essayistische Texte, Reden und Statements
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