André Müller: Der Vatikan hat sich darüber aufgeregt, dass eine, wie es hieß, nihilistische
Neurotikerin den Nobelpreis bekommt.
Elfriede Jelinek: Das fand ich besonders schlimm, denn der Vatikan sollte doch
eigentlich auf der Seite der Schwachen und Kranken stehen. Der sollte eher sagen,
lasst doch die arme Frau in Ruhe, die kann nicht anders, es ist schön, dass sie ihn
bekommen hat, auch wenn nihilistisch ist, was sie schreibt. Der Vatikan müsste doch
die Mühseligen und Beladenen schützen. […]
Das Recht, sie herabzusetzen, steht allein Ihnen zu.
Ja, genau. Ich möchte nicht, dass es ein anderer tut. Ich möchte die Sahnetorte, mit
der ich mich bewerfe, nicht sozusagen aufgehoben und voll Dreck ein zweites Mal
ins Gesicht bekommen, obwohl ich natürlich weiß, dass es eine Anmaßung ist. Denn
es kann ja jeder über mich sagen und schreiben, was er will. […]
Können Sie ohne Schlafmittel schlafen?
Nein, um Gottes willen, ohne Valium geht gar nichts. Meine Grundausstattung sind
Valium, Betablocker und Antidepressiva. Das Theaterstück „Bambiland“ habe ich
in einem einzigen Drogenflush geschrieben.
Froh werden Sie auch durch das Schreiben nicht?
Nein. Froh macht mich nichts. Nur manchmal gerate ich während des Schreibens
in so Zustände, in denen ich nicht mehr so ganz bei Bewusstsein bin. Es ist eine Art
Trance wie beim Orgasmus. Aber auch da weiß ich, wie es entsteht. Letztlich ist
alles Arbeit, sogar die Liebe. […]
Haben Sie jemals konkret daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?
Nein, komisch. Denn eigentlich wäre das die logische Konsequenz meiner
Selbstverachtung. Aber man krallt sich dann halt an das bisschen Leben, das da ist, wie
ein Krebskranker, der sich noch im letzten Stadium an jeden Tag klammert und
nicht sterben will.
Über ihre Situation nach der Nobelpreisbekanntgabe (
Nobelpreis
). Über die Reaktionen des Vatikans, von
Marcel Reich-Ranicki
,
Iris Radisch
,
Martin Mosebach
und
Franz Josef Wagner
. Über Biographisches (
Person
), das Verhältnis zu ihrer
Mutter
, Liebes- und Glücksmomente in ihrem Leben. Sie bezeichnet das Schreiben als „Rettungsboot“, als eine Art Therapie gegen ihre Ängste, die sie als „spezielle Form von Agoraphobie“ definiert. Die zentralen Motoren ihres Schreibens seien Hass und Rache. Über ihre Familiensituation (
Familie
) im
Nationalsozialismus
. Über Angst vor dem Altern, Selbstmordgedanken, Reisewünsche, weibliche
Homosexualität
, ihre
Ehe
und ihre Abhängigkeit vom Fernsehen (
Medien
). Den Humor in ihren Texten verortet sie in der Tradition des jüdischen Witzes (
Judentum
) und begründet ihr Bekenntnis zum
Feminismus
durch das „phallokratische Wertesystem, dem die Frau unterliegt“ (
Frau
,
Mann
), vergleicht weibliche und männliche Schönheitsideale miteinander und nennt die Gründe für ihr politisches Engagement in der KPÖ (
Politik
,
Kommunismus
).
Passagen des Interviews wurden für
Maxi Blahas
und
Verena Humers
szenische Fassung
Es gibt mich nur im Spiegelbild
(2016) verwendet.
Reaktionen
Reaktionen:
Böhler, Verena
:
Vielfalt statt Einfalt. In: Die Weltwoche,
2.12.2004
(Leserbrief)
.
Fischer, Erica
:
Dank für unkonventionelle Gesprächsführung. In: Berliner Zeitung,
4.12.2004
(Leserbrief)
.
Rosenkranz, Doris
:
Ich bin die Liebesmüllabfuhr. In: profil,
6.12.2004
(Leserbrief)
.
Nennt Gründe, warum Jelinek den
Nobelpreis
verdient hat.
Wiedermann, Brigitte
:
Ich bin die Liebesmüllabfuhr. In: profil,
6.12.2004
(Leserbrief)
.
Positiver Leserbrief zum Gespräch.