Alle nämlich, die von Erde und Himmel stammten, waren schrecklich-gewaltige Kinder und dem Vater von Anfang an ein Greuel; kaum war eines geboren, verbarg sie Uranos alle im Schoß der Erde,
ließ sie nicht ans Licht und freute sich noch seiner Untat. Die riesige Erde aber wurde im Inneren bedrängt, stöhnte und ersann einen bösen, listigen Anschlag. Rasch erschuf sie das Element
des grauen Stahls, machte eine große Sichel, wies sie ihren lieben Kindern und sprach ihnen (denn groß war der Groll ihres Herzens) Mut zu: „Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder,
wollt ihr mir gehorchen, so können wir die Schandtat eures Vaters vergelten. Er hat nämlich als erster sich die schimpflichen Werke ausgedacht.“ So sprach sie, doch alle ergriff Furcht,
und keiner von ihnen sagte ein Wort. Der große, Krummes sinnende Kronos jedoch faßte Mut und erwiderte gleich seiner edlen Mutter: „Mutter, ich könnte die Tat auf mich nehmen und ausführen,
denn ich kenne nicht Schonung für unseren Vater, der seines Namens nicht wert ist; er hat nämlich als erster sich die schimpflichen Werke ausgedacht.“ So sprach er. Die riesige Erde aber freute sich.
Sie barg ihn in einem Versteck, gab ihm die scharfgezahnte Sichel in die Hand und lehrte ihn die ganze List. Es kam aber der große Himmel, führte die Nacht herauf, umfing die Erde voller Liebesverlangen
und breitete sich ganz über sie. Der Sohn aber griff aus dem Versteck mit der linken Hand nach ihm, nahm die riesige, lange, scharfgezahnte Sichel in die Rechte, mähte rasch das Geschlecht seines Vaters
ab und warf es hinter sich, daß es fortflog; doch fiel es nicht ohne Wirkung aus seiner Hand, denn all die blutigen Tropfen, die herabfielen, empfing Gaia und gebar im Kreislauf der Jahre die
starken Erinyen, die großen Giganten in strahlender Rüstung und mit langen Speeren in der Hand sowie auch die Nymphen, die man auf der unendlichen Erde Melische, also Eschennymphen nennt.
aus: Elfriede Jelinek: Der Tod und das Mädchen V (Die Wand). In: Jelinek, Elfriede: Der Tod und das Mädchen I-V. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003, S. 142-143.
Am Ende von Jelineks Theatertext
Der Tod und das Mädchen V (Die Wand)
findet sich folgende Szenenanweisung: „[...] toll wäre es, wenn die Schauspielerinnen, oder wenigstens eine von ihnen, aus der Theogonie des
Hesiod
(155ff) die folgenden netten Worte sprechen oder lesen könnte“. Die darauffolgende Textsequenz, in der Jelinek die Passage aus der Theogonie des
Hesiod
zitiert, in der von der Kastration des Uranos durch seinen Sohn Kronos mittels einer Sichel die Rede ist, wurde von
Rolf Riehm
für seine Komposition Die schrecklich-gewaltigen Kinder bearbeitet. Die Textpassagen sind für Sopran komponiert.