Karin Kathrein: Sie stellen die problematische Beziehung von Martin Heidegger und Hannah Arendt ins Zentrum. Welches Modell entwickeln Sie daraus?
Elfriede Jelinek: Von der Sprache her geht es um den Wunsch, das philosophische Denken in ein literarisches Sprechen überzuführen, weil eben das Denken der Frau verschlossen ist. Es gibt ja kaum große Philosophinnen. Um in diesen stählernen Käfig des männlichen Denkens einzudringen, habe ich eine literarische Sprache gesucht. Der Mann als das reine Denken, der aber auch gleichzeitig die Heimat usurpiert gegen die Fremden. Im Gegensatz zum Kosmopoliten, zum Juden Husserl, der das Fremde als etwas Bereicherndes empfindet, hat ja der faschistische Philosoph Heidegger sozusagen das Eigene gegen das Fremde abgrenzen und bewahren wollen. Hannah Arendt wiederum wurde durch die politischen Zeitläufe aus dem reinen Denken in ein politisches Denken hineingestoßen, das auch eine moralische Implikation hat.
Sie stellen Bodenständigkeit und Fremdheit, Heimat und Emigration mit einem grotesken Figurenpersonal von Jägern und Gamsbärtlern, Kellnern, Leistungssportlern und toten, teilweise verwesten Bergsteigern in ein Spannungsfeld?
Es geht mir um dieses kalte Denken von Heimat. Heimat ist eigentlich das Unheimlichste. Denn das, worauf wir uns als Heimat berufen und was wir den Touristen verkaufen, ist dieser Boden. Und was dieser Boden wirklich bedeutet, ist ein Meer aus Knochen, ein Meer aus Ermordeten. Österreich steht als das Land an der Weltspitze, das den größten Prozentsatz seines Bruttosozialproduktes mit Tourismus erwirtschaftet. Wir leben davon, Gastgeber zu sein. [...]
Wie verbinden Sie das mit Heidegger und Hannah Arendt?
Heidegger ist der, der davon spricht, daß diese Heimat denen gehört, die sie besitzen und das Unheimliche dabei ausklammern. [...]
Sie zeigen aber auch Heideggers Scheitern?
Der Mann steht letztlich auch allein, denn in dieser fortschreitenden entropischen Geist- und Kulturlosigkeit, die sich breitmacht, kommt auch der Denker unter die Räder. Das war ja auch eine Tragödie, die Heidegger am eigenen Leibe erfahren hat. Daß er, der den Führer führen wollte, als Philosoph, plötzlich eine komische Figur war, eine lächerliche. Der Nobelpreisträger für Chemie, den er denunziert hat, war für die Nazis viel wichtiger, weil die Chemie eben wichtiger ist für einen faschistischen Staat als das Denken.
aus: Karin Kathrein: „Heimat ist das Unheimlichste“. Elfriede Jelinek zu „Totenauberg“. In: Bühne 9/1992, S. 34.
Der Titel
Totenauberg
bezieht sich auf den Ort Todtnauberg im Schwarzwald, wo der deutsche Philosoph
Martin Heidegger
eine Hütte als Ferienaufenthaltsort und Alterssitz besaß.
Der Theatertext ist in vier Abschnitte gegliedert: IM GRÜNEN, TOTENAUBERG (Gesundheit!), HEIM WELT, UNSCHULD. Der Bühnenraum ist in zwei Ebenen geteilt. Der erste Schauplatz ist die Halle eines Luxushotels, in der der alte Mann in ein Gestell geschnallt spricht. Die zweite Ebene bildet eine Filmleinwand im Hintergrund, auf der unterschiedliche Projektionen gezeigt werden: eine Bank vor einer Almhütte, auf der die Frau sitzt, Schifahrer, die einen Hang hinunterwedeln, ein Dokumentarfilm über den Transport von Juden in Konzentrationslager, mit Leichen übersäte Berghänge und der Innenraum eines Schlosses.
In den Textsequenzen der Frau und des alten Mannes gibt es intertextuelle Bezüge zur
Philosophie
Hannah Arendts
und
Martin Heideggers
. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit den Themenfeldern
Heimat
und
Natur
. Fortgesetzt werden diese Diskurse in den Reden der jungen Mutter (
Mutter
) und zweier Gamsbärtler. Kritisch reflektiert wird die unzureichende
Vergangenheitsbewältigung
und der Umgang mit den Verbrechen des
Nationalsozialismus
in
Deutschland
und
Österreich
(Holocaust (
Judenvernichtung
)) sowie die
Ausbeutung
der Natur durch
Sport
und
Tourismus
. Den Anklagen der Frau stehen die Leugnungen und Unschuldsbeteuerungen des alten Mannes gegenüber.
Jelinek hat ihren Kurzprosatext
Totenauberg (Gesundheit!)
(1990) in
Totenauberg
eingearbeitet.