Krankheit oder Moderne Frauen

Wie ein Stück

Uraufführung am Schauspiel Bonn Kammerspiele, 1987. Foto: Stefan Odry

Personen

Emily, Krankenschwester und Vampir; Carmilla, Hausfrau, Mutter und Vampir, österr.;Dr. Heidkliff,Facharzt für Kiefer- und Frauenheilkunde;Dr. Benno Hundekoffer,Steuerberater und Carmillas Mann; Ein Heiliger; Eine Märtyrerin

Fünf Personen auf Rollschuhen (verschiedene Größen); Eine sprechende Babypuppe mit hübschen Sprech-Kassetten; Zwei gut erzogene Jagdhunde; Ein paar Frauen in schönen Kleidern; Ein Doppelgeschöpf (Emily und Carmilla, zusammengenäht)

Abdrucke

Erstdruck:

Buchausgabe:

Weitere Abdrucke:

Je­li­nek, El­frie­de

:

Krankheit oder Moderne Frauen. In: Programmheft des Stadttheaters St. Gallen zu Jelineks

1996

.

Teilabdrucke:

Aufführungen

Lesung

Lesung aus dem Stück bis zur Szene II. 1 durch Jelinek und

Ne­da Bei

samt Kommentaren von Jelinek: Eigenaufnahme von der Tagung Das lila Wien um 1900. Zur Ästhetik der Homosexualität in der Alten Schmiede, Wien (27.-29.11.1985), archiviert in der Österreichischen Mediathek.

 

Krankheit oder Moderne Frauen ist in zwei Akte gegliedert, mit jeweils 5 (1. Akt) bzw. 6 (2. Akt) Szenen. Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes vorangestellt:

Im 1. Akt ist die Bühne zweigeteilt: auf der rechten Seite befindet sich eine wilde Landschaft, auf der linken Seite die Arztpraxis von Dr. Heidkliff mit einer „Mischung aus Zahnarzt- und Gynäkologenstuhl“. In diesem Stuhl stirbt die Hausfrau Carmilla bei der Geburt ihres sechsten Kindes. Die tote Frau wird von Emily, einem lesbischen

Vam­pir

(

Ho­mo­se­xua­li­tät

), gebissen und dadurch ebenfalls zu einer Untoten (

Un­to­te

) gemacht. Schauplatz des 2. Akts ist ein Schlafzimmer, in dem statt Betten Särge stehen. Carmilla hat ihre Kinder getötet, ernährt sich von ihrem Blut (

Kan­ni­ba­lis­mus

) und ist nun mit Emily zusammen. Carmillas Ehemann (

Ehe

), Benno Hundekoffer, und Dr. Heidkliff schließen sich zusammen, um die Vampirinnen zu jagen. Die beiden Untoten flüchten in eine Damentoilette, verwandeln sich dort in ein Doppelgeschöpf und werden von den beiden Männern erschossen.

Den titelgebenden Begriff der

Krank­heit

bezieht Jelinek auf die weibliche Existenz in einer patriarchalen

Ge­sell­schaft

(

Pa­tri­ar­chat

). Problematisiert wird u.a. auch das auf die Unterordnung ausgerichtete Bild der

Frau

des

Ka­tho­li­zis­mus

, dem das aktive Begehren der weiblichen Protagonistinnen entgegengestellt wird, das jedoch scheitern muss.

Mit Emiliy und Carmilla, den beiden weiblichen Vampiren, bezieht sich Jelinek auf die Schriftstellerin

Emi­ly Bron­të

und

Sher­i­dan Le Fa­nus

Novelle Carmilla (1872). Weitere im Stück verarbeitete Intertexte sind u.a.

Bram Sto­kers

Dracula (1897),

In­ge­borg Bach­manns

Der Fall Franza (1966) und

Bron­tës

Wuthering Heights (1847).

Eine Textpassage aus Jelineks Essay

Ich möch­te seicht sein von 1986

ist mit einer Passage aus Krankheit verwandt, sie kommt so auch im Hörspieltext

Er­zie­hung ei­nes Vam­pirs

vor. Jelineks Kurzprosatext

Bild und Frau (1984)

ist Teil des Textes der Frauenstimme vom Band in der 5. Szene des 2. Akts von Krankheit .

 

 

Kathrin Tiedemann: Bram Stokers „Dracula“ und Le Fanus „Carmilla“ sind ja zwei wichtige Quellen für KRANKHEIT. Wenn man „Dracula“ als literaturgeschichtlichen Endpunkt dieses Genres liest, könnte man sagen, daß dort an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Domestizierung der Frau zur Sekretärin, Hausfrau und Mutter beschrieben wird. Und die Carmilla-Figur durchläuft ja eine entgegengesetzte Entwicklung von der Hausfrau und Mutter zum Vampir. Was hat Sie denn so fasziniert an diesen Vampirgeschichten?

Elfriede Jelinek: Mich hat immer die schwarze Romantik interessiert [...]. Und dann habe ich eben für dieses Unheimliche, dieses nichtfaßbare Große des Vampirs etwas Kleines gebraucht, an dem ich es festmachen konnte. Da ist mir eben die Krankenschwester eingefallen, jemand, der eigentlich heilt und hilft und dem Arzt dient, sich in diesem Fall aber andererseits ungeniert an der Theke des Arztes bedienen kann. [...] Dann hab ich diesen Aufsatz von der Eva Meyer gefunden, von der Frau, die kein großer Meister ist, weil sie, beschäftigt wie sie ist mit dem Verschwinden, immer wieder auftauchen muß. Und „Carmilla“ von Le Fanu mit dem lesbischen Vampir, der ja nicht begehrt wird, sondern selbst begehrt, was ja eine Rolle ist, die für die Frau nicht vorgesehen ist, außer sie begehrt in der eigenen Verneinung. Und in dem Fall ist sie ja sogar eine Erobernde, indem sie eine andere Frau auch noch triggert. Oder eine Eroberte, die zu einer Erobernden wird und sich sogar gegen ihre Kinder wendet. Und Emily Brontë war auch immer eine Figur in der Literaturgeschichte, die mich immer sehr interessiert hat. Eine ewige Jungfrau. Die Mutter und die Jungfrau – also nicht die Mutter und die Hure, sondern die Jungfräuliche, die nur ihrem Werk lebt, auch ein Mann eigentlich. Daß [sic] ist ja für die Frau nicht vorgesehen, nicht zu gebären und nur ihrem Werk zu leben. Es ist übrigens interessant, daß im englischsprachigen Raum die alte Jungfer nichts Verächtliches ist, sondern etwas, was Schöpferkraft hat. Die ganze englische Literatur ist ja auch von solchen Jungfern durchzogen. [...]

Für die beiden Vampire geht die Geschichte aber nicht gut aus.

Das kann es auch nicht, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht danach sind. Sie haben keinen Ort und können auch keinen finden, weil das Patriarchat sie ja überall einholt und mit seinen relativ erbärmlichen Mitteln trotzdem stärker ist.

aus: Kathrin Tiedemann: Wenn ich total heiter bin, werde ich am Schrecklichsten sein . In: Programmheft des Bremer Theaters zu Elfriede Jelineks Krankheit oder Moderne Frauen , 1994.

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