Wie man die Welt anschaut

Abdrucke

auch in:

Übersetzungen

Polnisch

 

Dankesrede zur Verleihung des

Mül­hei­mer Dra­ma­ti­ker­prei­ses 2002

; bei der Preisverleihung in Mülheim am 30.6.2002 wurde die Dankesrede, von Jelinek gelesen, per Video eingespielt; über die Thematik ihrer Trilogie

Macht nichts

(2001), für die sie den Preis erhielt (

Thea­ter­äs­the­tik

). Sie habe den Preis bekommen, weil sie das Fortleben der Vergangenheit bis in die Gegenwart beschrieben habe (

Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung

). Die Heldin von

Erl­kö­ni­gin

, dem ersten Teil der Trilogie, sei eine Mittäterin im

Na­tio­nal­so­zia­lis­mus

gewesen, die von der österreichischen Bevölkerung dafür geliebt wurde. Aber auch die Opfer würden in

Ös­ter­reich

so sehr geliebt, dass sie erdrückt würden. Diesen Opfern gebe sie ihre Stimme, so lasse sie in

Der Wan­de­rer

ihren toten

Va­ter

als Festredner antreten.

 

Ich habe den Preis offensichtlich bekommen, weil ich das Fortleben der Vergangenheit in die Gegenwart hinein beschrieben habe. Weil ich sozusagen die Welt von hinten anschaue, was man Weltanschauung nennt. Indem ich meinen kleinen Grund, meinen Claim, in der Vergangenheit abstecke und in der Gegenwart dann dieses Grund-Stückchen an die Theater verkaufen will; es ist meins, obwohl es die Vergangenheit, die nicht sterben kann und auch nicht sterben will, wer will das schon, obwohl es also die Vergangenheit in der Gegenwart ist, die ich hier einem Publikum, das sich ganz ordentliche Grundstückpreis für unzureichende Gründe leisten kann, verkaufen will. Sie sollen für etwas zahlen, das ich ihnen als lebendig vorstelle, obwohl es eigentlich tot ist. Betrug.

aus: Elfriede Jelinek: Wie man die Welt anschaut . In: Süddeutsche Zeitung, 1.7.2002.

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Essayistische Texte, Reden und Statements
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