Also mir werden ja oft diese sogenannten „Textflächen“, die ich auf die Bühne stelle, um die Ohren gehauen. Aber wollen Sie wirklich, dass statt eines molligen, weichen, herzigen Textes, der keine feste Form hat, damit er Ihnen nicht wehtun kann, ja, er passt sich Ihnen nahtlos an, wollen Sie also, dass Ihnen wirkliche Menschen da, schreiend und schwindlig und ineinander verkrallt, entgegentorkeln, weil sie dummerweise versucht haben, sich auf diesem schmalen Steg aneinander festzuklammern, wollen Sie wirklich, dass die alle da ins Bodenlose fallen, nur um dort, irgendwo dort unten, ausgerechnet – also von mir nicht, von jemand anderem ausgerechnet – irgendeinen verborgenen Grund für das alles in sich finden und dann, rückprojiziert noch einmal auf sich selbst, zumindest für sich selbst, ja immer das, der Kostbarste überhaupt, ausgerechnet dort unten im Dreck und Staub?
aus: Elfriede Jelinek: Immer hinauf auf den Steg. Wie der Mensch auf die Bühne kommt . In: Süddeutsche Zeitung, 21.6.2004.
Dankesrede zur Verleihung des
Mülheimer Dramatikerpreises 2004
. Über das Theater, das einen Steg vom Zuschauerraum zur Bühne benötige, um den Weg vom Gewohnten zum Ungewöhnlichen des Bühnengeschehens zu finden. Statt wirklicher Menschen, die taumelnd von diesem Steg ins Bodenlose fallen würden, stelle sie ihre „Textflächen“ auf die Bühne, einen „molligen, weichen, herzigen“ Text ohne feste Form, und lasse damit keine Menschen, sondern die Verhältnisse selbst sprechen (
Theaterästhetik
).