Rechnitz (Der Würgeengel)
Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, 2008. Foto: Münchner Kammerspiele / Arno Declair
Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, 2008. Foto: Münchner Kammerspiele / Arno Declair
Jelinek, Elfriede
:
Rechnitz (Der Würgeengel). In:
Jelinek, Elfriede
:
Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke.
Reinbek
:
Rowohlt Taschenbuch Verlag
2009
, S. 53-205
DN
.
UA | 28.11.2008
, I:
Jossi Wieler
Jelineks Essay
Die Leere öffnen (für, über Jossi Wieler) (2006)
Erstsendung des TV-Mitschnitts: ORF 2, 31.5.2010 (von den
Wiener Festwochen
2010; im Rahmen von Kulturmontag Spezial zum Thema Rechnitz)
Sendungen
.
Auf DVD folgendem Buch beiliegend: Kurzenberger, Hajo (Hg.): Jossi Wieler – Theater. Köln: Alexander Verlag 2011.
zu sehen auf:
http://www.youtube.com/watch?v=6IDlIcmZ1-Y (15.7.2014) (= YouTube).
Auf DVD folgenden Büchern beiliegend: Kurzenberger, Hajo (Hg.): Jossi Wieler – Theater. Köln: Alexander Verlag 2011; Jelinek, Elfriede: Rechnitz and The Merchant’s Contracts. Ü: Gitta Honegger. London: Seagull Press 2015.
19.12.2009
Schauspielhaus Zürich
(an wechselnden Schauplätzen in Zürich)
, I:
Leonhard Koppelmann
9.3.2010
Trafó
, Budapest
, I:
Csaba Polgár
, Ü:
Zoltán Halasi
(szenische Lesung)
Übersetzte Werke
3.10.2010
, I:
Hermann Schmidt-Rahmer
4.12.2010
, I:
Marcus Lobbes
16.3.2012
, I:
Michael Simon
17.3.2012
, I:
Enrico Lübbe
Premiere der Inszenierung am Schauspiel Leipzig: 7.11.2013.
8.6.2013
, I:
David Jařab
, Ü:
Peter Lomnický
30.4.2014
Martin E. Segal Center
, New York
, I:
Kathrine Brook
, Ü:
Gitta Honegger
15.5.2014
, Ü:
Gitta Honegger
(szenische Lesung; aufgeführt und inszeniert von der Theatergruppe aya theatre company)
Übersetzte Werke
3.3.2015
, I:
Peter Arp
7.4.2015
Teatterimonttu
, Tampere
, I:
Hilkka-Liisa Iivanainen
, Ü:
Jukka-Pekka Pajunen
11.12.2016
, I:
Miloš Lolić
17.5.2017
Landestheater Niederösterreich
(Theaterwerkstatt)
, I:
Alia Luque
23.1.2017
, I:
Katarzyna Kalwat
, Ü:
Monika Muskala
(szenische Lesung)
Übersetzte Werke
19.4.2018
The New Stage Performance Space
, New York
, I:
Ildiko Nemeth
, Ü:
Gitta Honegger
Jelinek erhielt für Rechnitz (Der Würgeengel) in der Inszenierung von
Jossi Wieler
2009 den
Mülheimer Dramatikerpreis
.
2009 wurde der Theatertext von der Zeitschrift Theater heute zum „deutschsprachigen Stück des Jahres“ gewählt.
2009 erhielt
Jossi Wielers
Uraufführungsinszenierung den
NESTROY-Preis
in der Kategorie „Beste deutschsprachige Aufführung“.
Jelineks Essay
Im Zweifelsfall (2009)
Jelineks Essay
Gesprochen und beglaubigt (2009)
Jelineks Essay
An der Zukunft hängen, an der Zukunft dranhängen, etwas an die Zukunft dranhängen und einen Hänger annähen. Frauenarbeit halt (2009)
Jelineks Essay
o. T. (für eine Schautafel des Mahnmals Kreuzstadl Rechnitz) (2012)
Jelineks Essay
O posłańcach (2017)
Leonhard Koppelmanns Hörspielbearbeitung
Rechnitz (2011)
Christoph Kolars Verfilmung
Rechnitz (Der Würgeengel) (2014)
Wojtek Blecharzʼ Oper
RECHNITZ. OPERA (Anioł Zagłady) (2019)
Pia Janke: „Rechnitz (Der Würgeengel)“ benutzt für den Hauptteil den im antiken Drama häufig verwendeten Botenbericht als grundlegende dramatische Form. Ist diese Form, also das Berichten von etwas und über etwas, nicht auch eines der zentralen Themen des Stücks? Elfriede Jelinek: Ja, das würde ich so sehen. Das, von dem man nicht sprechen kann, wird nicht verschwiegen, aber es kann auch nur indirekt, durch Berichte, ausgesprochen werden. Die Zeitzeugen der Verbrechen sterben ja langsam aus. Bald werden wir alle nur noch von Botenberichten abhängig sein. Soweit sie eben aufgezeichnet sind. Das ist ein literarisches Problem, denn das Thema wurde ja tausendfach abgehandelt, oft in ritualisierter Form, fast wie eine Litanei. Durch Botenberichte (die man ja anzweifeln kann) kommt Authentizität hinein, gleichzeitig aber auch Unsicherheit. Es wird irgendwie herumgeschwiegen, indem ständig geredet wird. […]
Du stellst in deinem Stück vor allem die Sprache der Täter (bis heute) aus. Was ist das für eine Sprache? Nicht nur die Sprache der Täter. Die wird zwar öfter übernommen, aber so, dass man sie als eine übernommene (eine Überidentifikation) erkennen kann. Es gibt ja viele Diskurse, nicht nur den Herrschaftsdiskurs der Täter, sondern auch den Dienerdiskurs. Das Thema wird von vielen Seiten her beleuchtet, von ein und denselben Personen. Eigentlich spricht bei mir eine Instanz, die ständig switcht, also ein Wir, das man immer erst aus dem Zusammenhang heraus identifizieren kann. Die Boten reden unaufhörlich, aber was sie sagen, muss man sozusagen zwischen den Zeilen herauslesen. Vielleicht könnte man sie mit dem Chor in der griechischen Tragödie vergleichen, nur dass sie eben nicht in die Handlung eingreifen, sie nicht einmal kommentieren oder gar herumreißen, und das Publikum, an das sich die Boten wenden, sind sie bei mir auch noch selber. Ich würde sagen, das Publikum muss sich die Person, die spricht, und deren Wahrheit erst mal sozusagen heraussuchen, so wie der Regisseur das Stück erst fertigschreiben muss.
Und die Opfer, die Toten: sind sie die Leerstellen, um die letztlich alles kreisen muss? Die Opfer sprechen nicht. Sie entstehen, indem rund um sie herum unaufhörlich gesprochen wird. Sie sind die „hollow men“ (die ja auch bei T. S. Eliot ganz anders interpretiert werden können. Ich habe ihnen meine eigene Interpretation gegeben, sozusagen aufgepropft).
Ein Schloß in Österreich. Jagdtrophäen an den Wänden. Boten und Botinnen kommen von überall her,
zum Teil in desolater Abendkleidung, zum Teil als Fahrradkuriere gekleidet, sie laufen herein, in immer kürzeren
Abständen, bis irgendwann einmal der Raum gedrängt voll ist. Keiner verläßt diesen Raum. Sie sind alle vollkommen
zeitgemäß gekleidet. Bitte keine Anklänge an die Vergangenheit, höchstens kleine Zitate in Frisur etc.! Ein Mann
in Unterhose (von Calvin Klein oder Hugo Boss) wird von zwei Boten gefilzt, sein Chauffeur schaut dabei zu. Ab
und zu kommt jemand in seiner etwas derangierten, aber sehr eleganten großen Abendkleidung, aber mit Gewehr.
Die betreffende Person drängt sich durch die Boten, die weggeschoben werden, zu einem Fenster durch und schießt
ab und zu hinaus. Ab und zu, vor allem, wenn von Deutschland oder den Deutschen die Rede ist, macht die eine oder
andere Botenperson einen gespielten Selbstmordversuch, den man aber als unernst sofort erkennen muß. Vielleicht zieht
sie sich eine Plastiktüte über den Kopf und versucht, sie am Hals zuzuziehen oder so, also ironische Selbstmordversuche. Es sprechen nur die Botinnen und Boten (es kann auch nur einer oder eine allein sein, das bleibt
der Regie überlassen). Sie versuchen jeweils, den bewaffneten Menschen entweder zurückzuhalten oder ihn nach vorn zu
schieben, zum Fenster, damit hinausgeschossen werden kann. Man kann das natürlich, wie immer bei mir, auch vollkommen
anders machen.
Es war die Idee des Regisseurs
Jossi Wieler
,
Luis Buñuels
Film Der Würgeengel zur Grundlage eines Theatertextes zum Abschied der Ära
Frank Baumbauers
an den
Münchner Kammerspielen
zu nehmen. Jelinek bezieht sich in ihrem Stück auf die Grundkonstellation dieses Films und verbindet sie mit der Ermordung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern im Rahmen eines nationalsozialistischen Gefolgschaftsfestes in der Nacht vom 24./25.3.1945 auf dem burgenländischen Schloss Rechnitz von
Margit Batthyány
, geborene Thyssen-Bornemisza (
Arbeiter
,
Nationalsozialismus
).
Weitere wichtige Quellen und Intertexte sind
David R. L. Litchfields
Buch The Thyssen Art Macabre und sein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.10.2007, der in deutschen Zeitungen eine Debatte über die Mitverantwortung von
Margit Batthyány
am Massaker auslöste, und der Dokumentarfilm Totschweigen (1994) von
Margareta Heinrich
und
Eduard Erne
, der die Suche nach dem jüdischen Massengrab und die Atmosphäre des Verdrängens in Rechnitz zeigt. Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes nachgestellt:
David R. L. Litchfield
: ‚The Thyssen Art Macabre‘
Friedrich Nietzsche
: ‚Also sprach Zarathustra‘
Euripides
: ‚Die Bakchen‘, Übersetzung aus dem Netz
T. S. Eliot
: ‚The Hollow Men‘, übersetzt von einem netten Computer, vielen Dank!
Friedrich Kind
: ‚Der Freischütz‘
Dank an
Hans Magnus Enzensberger
für das schöne Interview!
Der erste, größere Teil des Textes ist als Bericht von BotInnen ausgewiesen. Jelinek nimmt mit dieser Form Bezug auf den Botenbericht der griechischen Tragödie (
Antike
). Im zweiten, kurzen Teil, in dem Jelinek Zitate aus den Chatprotokollen zwischen dem „Kannibalen von Rotenburg“
Armin Meiwes
und seinem Opfer
Bernd Brandes
(
Kannibalismus
) verarbeitet, sprechen die „eigentlichen Akteure“. Während der erste Teil in einem „Schloß in Österreich“ spielt, ist der Schlussteil in einer „Jagdhütte in den Bergen“ verortet.
Der Text thematisiert am Beispiel des Massakers von Rechnitz die Verdrängung und Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus und des Holocaust (
Judenvernichtung
) in
Österreich
, die unzureichende
Vergangenheitsbewältigung
sowie das Fortbestehen von
Antisemitismus
und
Fremdenfeindlichkeit
.
Bei
Hermann Schmidt-Rahmers
Inszenierung am
Düsseldorfer Schauspielhaus
, die – im Gegensatz zur Uraufführung – den zweiten Teil mit dem Kannibalismus-Chat einbezog, kam es zu Publikumsprotesten.