Rechnitz (Der Würgeengel)

Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, 2008. Foto: Münchner Kammerspiele / Arno Declair

Abdrucke

Erstdruck (=Buchausgabe):

Aufführungen

Würdigung

Jelinek erhielt für Rechnitz (Der Würgeengel) in der Inszenierung von

Jos­si Wie­ler

2009 den

Mül­hei­mer Dra­ma­ti­ker­preis

.

2009 wurde der Theatertext von der Zeitschrift Theater heute zum „deutschsprachigen Stück des Jahres“ gewählt.

2009 erhielt

Jos­si Wie­lers

Uraufführungsinszenierung den

NES­TROY-Preis

in der Kategorie „Beste deutschsprachige Aufführung“.

 

Es war die Idee des Regisseurs

Jos­si Wie­ler

,

Lu­is Bu­ñuels

Film Der Würgeengel zur Grundlage eines Theatertextes zum Abschied der Ära

Frank Baum­bau­ers

an den

Münch­ner Kam­mer­spie­len

zu nehmen. Jelinek bezieht sich in ihrem Stück auf die Grundkonstellation dieses Films und verbindet sie mit der Ermordung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern im Rahmen eines nationalsozialistischen Gefolgschaftsfestes in der Nacht vom 24./25.3.1945 auf dem burgenländischen Schloss Rechnitz von

Mar­git Bat­thyá­ny

, geborene Thyssen-Bornemisza (

Ar­bei­ter

,

Na­tio­nal­so­zia­lis­mus

).

Weitere wichtige Quellen und Intertexte sind

Da­vid R. L. Litch­fields

Buch The Thyssen Art Macabre und sein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.10.2007, der in deutschen Zeitungen eine Debatte über die Mitverantwortung von

Mar­git Bat­thyá­ny

am Massaker auslöste, und der Dokumentarfilm Totschweigen (1994) von

Mar­ga­re­ta Hein­rich

und

Edu­ard Er­ne

, der die Suche nach dem jüdischen Massengrab und die Atmosphäre des Verdrängens in Rechnitz zeigt. Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes nachgestellt:

„Die Danksagungen beginnen jetzt:
Also.

Da­vid R. L. Litch­field

: ‚The Thyssen Art Macabre‘

Fried­rich Nietz­sche

: ‚Also sprach Zarathustra‘

Eu­ri­pi­des

: ‚Die Bakchen‘, Übersetzung aus dem Netz

T. S. Eli­ot

: ‚The Hollow Men‘, übersetzt von einem netten Computer, vielen Dank!

Fried­rich Kind

: ‚Der Freischütz‘

Dank an

Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger

für das schöne Interview!

Und noch ein paar Kleinigkeiten, denen ich auch viel zu verdanken habe und die ich auch noch verdauen muß. Das hat aber Zeit. Derzeit kaue ich noch dran.“

Der erste, größere Teil des Textes ist als Bericht von BotInnen ausgewiesen. Jelinek nimmt mit dieser Form Bezug auf den Botenbericht der griechischen Tragödie (

An­ti­ke

). Im zweiten, kurzen Teil, in dem Jelinek Zitate aus den Chatprotokollen zwischen dem „Kannibalen von Rotenburg“

Ar­min Mei­wes

und seinem Opfer

Bernd Bran­des

(

Kan­ni­ba­lis­mus

) verarbeitet, sprechen die „eigentlichen Akteure“. Während der erste Teil in einem „Schloß in Österreich“ spielt, ist der Schlussteil in einer „Jagdhütte in den Bergen“ verortet.

Der Text thematisiert am Beispiel des Massakers von Rechnitz die Verdrängung und Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus und des Holocaust (

Ju­den­ver­nich­tung

) in

Ös­ter­reich

, die unzureichende

Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung

sowie das Fortbestehen von

An­ti­se­mi­tis­mus

und

Frem­den­feind­lich­keit

.

Bei

Her­mann Schmidt-Rah­mers

Inszenierung am

Düs­sel­dor­fer Schau­spiel­haus

, die – im Gegensatz zur Uraufführung – den zweiten Teil mit dem Kannibalismus-Chat einbezog, kam es zu Publikumsprotesten.

 

Pia Janke:Rechnitz (Der Würgeengel)“ benutzt für den Hauptteil den im antiken Drama häufig verwendeten Botenbericht als grundlegende dramatische Form. Ist diese Form, also das Berichten von etwas und über etwas, nicht auch eines der zentralen Themen des Stücks?

Elfriede Jelinek: Ja, das würde ich so sehen. Das, von dem man nicht sprechen kann, wird nicht verschwiegen, aber es kann auch nur indirekt, durch Berichte, ausgesprochen werden. Die Zeitzeugen der Verbrechen sterben ja langsam aus. Bald werden wir alle nur noch von Botenberichten abhängig sein. Soweit sie eben aufgezeichnet sind. Das ist ein literarisches Problem, denn das Thema wurde ja tausendfach abgehandelt, oft in ritualisierter Form, fast wie eine Litanei. Durch Botenberichte (die man ja anzweifeln kann) kommt Authentizität hinein, gleichzeitig aber auch Unsicherheit. Es wird irgendwie herumgeschwiegen, indem ständig geredet wird. […]

Du stellst in deinem Stück vor allem die Sprache der Täter (bis heute) aus. Was ist das für eine Sprache?

Nicht nur die Sprache der Täter. Die wird zwar öfter übernommen, aber so, dass man sie als eine übernommene (eine Überidentifikation) erkennen kann. Es gibt ja viele Diskurse, nicht nur den Herrschaftsdiskurs der Täter, sondern auch den Dienerdiskurs. Das Thema wird von vielen Seiten her beleuchtet, von ein und denselben Personen. Eigentlich spricht bei mir eine Instanz, die ständig switcht, also ein Wir, das man immer erst aus dem Zusammenhang heraus identifizieren kann. Die Boten reden unaufhörlich, aber was sie sagen, muss man sozusagen zwischen den Zeilen herauslesen. Vielleicht könnte man sie mit dem Chor in der griechischen Tragödie vergleichen, nur dass sie eben nicht in die Handlung eingreifen, sie nicht einmal kommentieren oder gar herumreißen, und das Publikum, an das sich die Boten wenden, sind sie bei mir auch noch selber. Ich würde sagen, das Publikum muss sich die Person, die spricht, und deren Wahrheit erst mal sozusagen heraussuchen, so wie der Regisseur das Stück erst fertigschreiben muss.

Und die Opfer, die Toten: sind sie die Leerstellen, um die letztlich alles kreisen muss?

Die Opfer sprechen nicht. Sie entstehen, indem rund um sie herum unaufhörlich gesprochen wird. Sie sind die „hollow men“ (die ja auch bei T. S. Eliot ganz anders interpretiert werden können. Ich habe ihnen meine eigene Interpretation gegeben, sozusagen aufgepropft).

aus: Pia Janke: „Diese falsche und verlogene Unschuldigkeit Österreichs ist wirklich immer mein Thema gewesen.“ Elfriede Jelinek im Gespräch mit Pia Janke. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa / Schenkermayr, Christian (Hg.): „Die endlose Unschuldigkeit“. Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“. Wien: Praesens Verlag 2010 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 6), S. 17-23, S. 20-21.

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