Michael

Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft

Cover des Erstdrucks, 1972

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Radio-Lesungen

  • Literarisches Atelier: Michael, ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft, Elfriede Jelinek liest unveröffentlichte Texte.

    9.5.1972.

  • Guten tag meine lieben ich freue mich euch endlich persönlich kennenzulernen. 5.12.1987.

  • „Für Hörer“ von Elfriede Jelinek. 10.12.2004.

 

Der Titel des Romans ist eine Anspielung auf

Jo­seph Goeb­bels

Bildungsroman Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern (München: Verlag Frz. Eber Nachf. 1929).

Der Text ist in Kleinschreibung ohne Kommasetzung verfasst, die Wörter sind am Ende der Zeilen ohne Abteilungszeichen getrennt, statt y wird ü verwendet. Der Roman weist 28 Abschnitte auf, die jeweils auf einer neuen Seite beginnen und deren Überschriften meist Anreden an die LeserInnen sind (diese Abschnitte werden in der folgenden Aufzählung durch Zeilenumbrüche kenntlich gemacht). Die Abschnitte werden durch weitere Überschriften untergliedert (im Folgenden durch Strichpunkte voneinander getrennt):

guten tag meine lieben ich freue mich euch endlich persönlich kennenzulernen!; erzählung
meine lieben!; erzählung; wirklichkeit; nacherzählung
hallo liebe buben und mädel!; erzählung; wirklichkeit
ja liebe mädel und jungs; nacherzählung
NA IHR:; wirklich wirklichkeit; nacherzählung
liebe buben & mädel!; erzählung; wirklichkeit
liebe junge leser!; erzählung
liebe freunde denn das seid ihr doch; wirklichkeit
liebe grosse & kleine leser!; nacherzählung; wirklichkeit; wirklichkeit; erzählung; nacherzählung
liebe junge leser:; wirklichkeit; erzählung
liebe junge freunde!; nacherzählung
na ihr!; nacherzählung (nachtrag); wirklichkeit; erzählung
liebe junge freunde; nacherzählung; wirklichkeit
na meine lieben buben und mädel!; nacherzählung
liebe hörerinnen und hörer: dieser satz ist nicht erdichtet. dieser satz ist wahr:; erzählung
na liebe jungen und mädel!; wirklichkeit
tag, da bin ich wieder liebe jungen und mädchen!; nacherzählung
na liebe jungen und mädels! wollt ihr auch dass diese; wirklichkeit
liebe jungen und mädchen!; erzählung
tja liebe kinder; nacherzählung
na IHR!; erzählung; wirklichkeit; erzählung
ja liebe kinder; nacherzählung
liebe jungen und mädchen; wirklichkeit; erzählung
tja liebe kinder!; wirklichkeit
liebe buben und mädel!; ende der erzählung
ha meine lieben jungen freunde; ende der nacherzählung
noch mal guten tag meine lieben da bin ich wieder oft komme ich nicht mehr das kann euch wirklich leid tun; ende der wirlichkeit [sic]
guten tag und auf wiedersehn liebe junge freunde

Der Roman imitiert verschiedene Medienformate (

Me­di­en

), vor allem deutsche und amerikanische Fernsehserien (

USA

), aber auch Genres der Printmedien wie Homestory, Mordbericht und Liebesroman, und setzt sich mit Trivialmythen (

Tri­vi­al­my­thos

) der

Pop-Kul­tur

, vor allem der Massenmedien, auseinander. Der durch

Aus­beu­tung

und

Ge­walt

geprägten Welt der Arbeiterinnen (

Ar­bei­ter

,

Ar­bei­te­rin

) in der Firma Kaffee-Koester wird die Familienidylle (

Fa­mi­lie

) des Firmeninhabers Michael Koester gegenübergestellt. Die Lehrlinge Gerda und Inge sind Medienkonsumentinnen, die nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können und ihrem Arbeitsalltag mit Hilfe der Medien entfliehen.

In einem der Abschnitte, die mit nacherzählung betitelt sind, hat Jelinek ihren Kurzprosatext

fra­gen zu flip­per (1970)

weiterverarbeitet. Bestimmte Abschnitte stehen stilistisch und thematisch auch in enger Beziehung zu ihrem Kurzprosatext

un­ter­gang ei­nes tau­chers (1970)

und dem gleichnamigen

Hör­spiel­text (1973)

.

 

guten tag meine lieben ich freue mich euch endlich persönlich kennenzulernen!
bloss eines stört mich an euch: immer sollen die andren schuld sein. ihr müsst schon besser schauen wenn ihr die stiege herunterfallt oder überfahren werdet oder eure stellung verliert.
da stellt man eben die bildschärfe genauer ein. der knopf ist doch wohl gross genug dass ihr ihn seht. nicht? manche von euch haben sich dabei zu richtigen kleinen fachleuten entwickelt. die andren müssen allerdings noch fest üben.
und noch ein tip fürs wochenende:
wenn euch beim fernsehn mal friert dann holt rasch die warme jacke! bevor es einen schnupfen gibt. im kasten liegt sie doch. die hat euch nun wirklich keiner weggenommen.
erzählung
solche die zuschauen nennt man zaungäste alle andren bilden die grosse lesergemeinde.
aus einer tür läuft ingrid aus der andren gerda. sie sind kaufm. lehrlinge. ihnen fehlt noch immer die kleinigkeit auf dies ankommt.
sie lesen in der zeitung immer über sachen die höhere schülerinnen in ihrer freizeit treiben. manchmal verstehen sie nicht alles. wenn man sie fragt antworten sie: freitag um 4 ist die arbeit der woche vorbei.
freitag um 4 fühlen wir uns so glücklich & frei. das ist alles was sie können. sie wiederholen es immer wieder wie die idioten.
vorsicht vor zuviel! das sieht leicht angemalt aus.
wir wollen nur ein wenig zuschauen. wir wollen nichts kaputt machen. wir sind auch ganz ruhig und stören nicht. natürlich. ich bin für den rummel verantwortlich. ich fotografiere schöne kleider. wenn ihr fleißig seid dürft ihr euch vielleicht ein neues kleid zum geburtstag wünschen.
zuerst aber reisse ich euch den reissverschluss auf. ich schlage euch mit der flachen hand ins gesicht eure köpfe fliegen zurück. ich berate & beantworte. mini ist noch nicht passé. er wirkt wieder kombiniert mit wollstrümpfen in der farbe des kleides. ich versetze euch je einen schlag ins kreuz dass ihr taumelt.
haben sie noch lederreste in ihrer flickenkiste liebe gerda? nein? dann trete ich ihnen die oberen & unteren schneidezähne ein liebe gerda.
aus: Elfriede Jelinek: Michael . Reinbek: Rowohlt 1972, S. 7-8. (Beginn)