N. N.: Sie haben gerade Ihren neuen Roman fertiggestellt, wovon handelt er? Ein Österreich-Roman?
Elfriede Jelinek: Er heißt Die Kinder der Toten und ist ein Gespensterroman in der Tradition der gothic novel. Das ist nicht nur eine angelsächsische Tradition, sondern seit der deutschen Romantik, seit Tieck und E.T.A. Hoffmann, auch eine deutschsprachige; wie Kubin in der Malerei. Das hat mich immer sehr interessiert – Gespenstergeschichten, schaurige Geschichten. Aber es ist im Grunde eine Parabel auf die österreichische Geschichte, auf das Gespenstische, auf das Verleugnete und Begrabene der österreichischen und auch der deutschen Geschichte, das sozusagen nie ganz begraben ist, weil es immer wieder wie ein Vampir aus dem Boden herauskommt; oder wie in dem Märchen, wo immer wieder die Hand der Mutter aus dem Grab herauswächst. […]
Satire und Groteske sind bei Ihnen sehr häufige Stilmittel. Ist das eine Form, die österreichische Wirklichkeit in den Griff zu kriegen?
Ja, aber man kriegt sie immer weniger damit in den Griff, denn die österreichische Wirklichkeit (auch so wie sie sich jetzt spiegelt in den Medien, vor allem in den Zeitungen des Landes, wo die Hälfte aller lesefähigen Österreicher bekanntlich ein Kleinformat lesen) ist einfach schon so, daß sie nicht mehr satire- oder ironiefähig ist; es gibt gewisse Dinge, die man nicht mehr unterbieten kann.
aus: N. N.: Mehr Haß als Liebe. In: Grohotolsky, Ernst (Hg.): Provinz, sozusagen. Österreichische Literaturgeschichten. Graz: Droschl 1999, S. 63-76, S. 63-64.
N. N.: Wie erleben Sie eigentlich den österreichischen Literaturbetrieb? Nach „Raststätte“ hat man Ihnen ja vorgeworfen, Sie hätten den Skandal gesucht, und war dann ganz enttäuscht, daß man diesen Skandal nicht gefunden hat.
Elfriede Jelinek: Also ich muß sagen, „Raststätte“ hat mich ziemlich zerstört. Das hängt mir bis heute nach. Das hab ich nicht verwunden. Nicht, weil ich Kritik nicht vertragen könnte; wenn ich das nicht könnte, wär ich längst einfach in der Versenkung verschwunden, weil ich ja immer sehr hart kritisiert worden bin. Das hat mich ja immer begleitet. Sondern deshalb, weil es so oberflächlich rezipiert worden ist. Es ist wirklich kein einziger auf den Text eingegangen, der ja ein sehr komplizierter und gearbeiteter ist. Das muß einem nicht gefallen, aber man muß sich damit auseinandersetzen. Weil es halt so eine oberflächliche, auf dieses Skandalisieren hin gerichtete Rezeption war. Das war eigentlich ein Schock. Vielleicht habe ich unbewußt daran mitgearbeitet, dadurch, daß ich den Text vorher nicht veröffentlicht hab. Das hätte ich tun sollen, das weiß ich jetzt. Aber damals hab ich das nicht geahnt. Vielleicht hätte das diesen Leuten den Wind aus den Segeln genommen. Aber diese Art von oberflächlichem, ordinärem Gebell und Heruntermachen, davon hab ich mich eigentlich nicht erholt. Das wird mir, glaub ich, auch meine Freude, fürs Theater zu schreiben, endgültig nehmen. – Das hat schon mit dem Medium zu tun. Auch bei „Lust“ hats natürlich Geschrei gegeben. Aber das hat nie diese Ordinärheit wie das Geschrei, das öffentlichen Ereignissen wie Theateraufführungen anhaftet. Denn das Theater ist der Ort, wo sich das Bürgertum immer noch feiern will, und wenn man ihm dabei einen Knebel in den Rachen stopft, dann spucken sie ihn halt mir ins Gesicht. Vielleicht ist das auch richtig so, aber ich kann damit nicht gut leben.
aus: N. N.: Mehr Haß als Liebe. In: Grohotolsky, Ernst (Hg.): Provinz, sozusagen. Graz: Droschl 1995, S. 63-76, S. 73-74.
Ausgangspunkt ist ihr Roman
Die Kinder der Toten
, den sie als „Gespensterroman in der Tradition der gothic novel“ bezeichnet. Der Text sei „eine Parabel auf die österreichische Geschichte, auf das Gespenstische, auf das Verleugnete und Begrabene“ (
Vergangenheitsbewältigung
). Über ihren literarischen Werdegang und
Österreich
. Als Charakteristikum der österreichischen Schreibtraditionen (
Schreibtradition
) bezeichnet sie den „Riß in der Identität“, der aus einer „Mischung aus [...] verschiedenen anderen Kulturkreisen“ resultiere. Als Beispiele werden
Peter Handke
und
Ingeborg Bachmann
genannt. Interesse bekundet sie an den Arbeiten zeitgenössischer österreichischer AutorInnen wie
Friederike Mayröcker
,
Elfriede Gerstl
und
Ernst Jandl
. Über ihre Hassliebe gegenüber dem Land, die Skandalisierung von
Raststätte oder Sie machens alle
in den
Medien
und über den Rechtsruck in der österreichischen
Politik
.