(Also, ihr macht eh, was ihr wollt. Trotzdem sage ich, wie ich es mir vorstelle. Wie immer habe ich die Ästhetik der Aktionen von Paul McCarthy im Auge und nicht nur dort.
„Bunker Basement“ oder „Piccadilly Circus“ wären Beispiele dafür, was ich meine. Der Text könnte vielleicht nichts als Hintergrundmusik, eine Tapete für irgendwelche Popanze sein.
Er läuft sozusagen durch als eine Endlosschleife (wenns aus ist, fängt es wieder von vorne an) – ich könnte mir sogar vorstellen, daß er, beinahe unhörbar, wie eine Litanei als Hintergrund
zu einer Aufführung von „Nathan“ (oder einem ähnlichen Stück) durchläuft, vielleicht sogar von mir selber gelesen, manchmal etwas lauter, an der Hörgrenze, vielleicht sogar darüber,
das müßte jemand vom Pult aus steuern, dann wieder unhörbar, man kann sich von ihm auch beliebige Stücke abschneiden, ungefähr wie von einer langen Wurst. Man kann Sätze auch mittendrinnen
durchschneiden. Falls man es inszenieren möchte: Die Figuren, die sprechen, sollen entweder vergrößert werden, vielleicht durch riesige Pappmachéköpfe, die sie tragen, am besten mit dem
Gesicht nach hinten, sodaß sie auf der Bühne dauernd zusammenstoßen, umfallen, das Bühnenbild, falls es eins gibt, umreißen, die Bühne auf unterschiedlichste Weise devastieren, etc. etc.
Oder die Figuren verdoppeln sich auf andere Weise. Sie tragen Kopf und Glieder, sozusagen ein zweites Mal, eben verdoppelt, mit sich herum. Der Kopf soll dann ihre Gesichtszüge tragen,
er kann aber auch andre haben. Es soll eine Vermehrung und/oder allgemeine Vergrößerung von allem stattfinden. Vielleicht, wenn sich Gegenstände auf der Bühne befinden, sollen die proportional
sehr klein sein, damit die Figuren riesig wirken. Der Text kann aber auch, wie gesagt, als reine Geräuschtapete eingesetzt werden, sehr leise und beinahe unverständlich, wie fernes Gemurmel,
und nur manchmal wirklich hörbar und verständlich.)
Regiebemerkung, die dem Text vorangestellt ist
Abraumhalde war der erste von Jelinek als Sekundärdrama bezeichnete Theatertext. Damit einher geht die Aufforderung, dass der Text nur in Kombination mit dem jeweiligen „Primärdrama“, auf das es sich bezieht – in diesem Fall
Gotthold Ephraim Lessings
Nathan der Weise –, aufgeführt werden darf. In der Regieanweisung beschreibt die Autorin den Text als eine „ Geräuschtapete “ und schlägt vor, ihn „ beinahe unhörbar, wie eine Litanei als Hintergrund “ zu einer Aufführung von
Lessings
Nathan der Weise zu verwenden. In Hinblick auf die Möglichkeiten der szenischen Umsetzung verweist sie auf die Ästhetik der Aktionen
Paul McCarthys
. Der Text ist durch Leerzeilen und Absätze gegliedert und nicht auf SprecherInnen aufgeteilt.
Jelinek bezieht sich im Text auf den Inzestfall von Amstetten (
Österreich
), der 2008 aufgeklärt wurde und ergab, dass der Angeklagte
Josef Fritzl
seine Tochter 24 Jahre lang im Keller seines Hauses gefangen gehalten, vergewaltigt und mit ihr sieben Kinder gezeugt hatte (
Vater
,
Familie
,
Patriarchat
,
Gewalt
). Neben Bezügen zu
Lessings
Drama Nathan der Weise (durch verarbeitete Zitate, das Motiv des brennenden Hauses, der Ringparabel und das thematisierte Spannungsverhältnis zwischen
Judentum
, Christentum und
Islam
), verarbeitet die Autorin auch Passagen aus der Antigone (
Antike
) von
Sophokles
(u.a. zum Motiv der in einem unterirdischen Raum gefangenen
Frau
, das mit dem Fall
Fritzl
verschränkt wird).
„
Lessing
: ‚Nathan der Weise‘
Sophokles
: Antigone
Jochen von Lang
: Das
Eichmann
Protokoll (Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre)
Herbert Marcuse
: Repressive Toleranz
Abraumhalde wurde erstmals in
Nicolas Stemanns
Inszenierung von
Lessings
Nathan der Weise am Hamburger
Thalia Theater
integriert.
Stemann
verwendete nicht den gesamten Text, sondern nur Teile, und zwar punktuell, um u.a. zu zeigen, dass die Utopie der friedlich vereinten Religionen in der Realität nicht möglich ist.