Ich erzählte und erzählte und glaubte schon beinahe selber, was ich sagte, als er mich
unterbrach: „Wollen Sie damit andeuten, daß Ihre Brüder auf sitzende Vögel geschossen
haben?“ Seine Stimme war kalt und empört.
Ich starrte ihn an. Wie konnte ich diesen Mann überzeugen, daß ich nicht die leiseste
Ahnung hatte, ob meine Brüder auf sitzende Vögel schossen oder nicht? Wie konnte ich
jetzt noch erklären, was wirklich geschehen war? Wenn ich es tat, würde er mich für eine
Lügnerin halten. Oder für einen Feigling, und damit hätte er recht, denn ich hatte vor
vielen Dingen Angst, nicht nur vor dem Knallen einer Büchse. Doch zu diesem Zeitpunkt
war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihn überhaupt mochte, und so schwieg ich und
fühlte, wie mein Gesicht so steif und abwesend wurde wie seins. Es war ein äußerst
unbehagliches Diner. Wir vermieden es beide, auf das Bett im Nebenzimmer zu blicken,
und als der letzte Bissen geschluckt war, verkündete er, daß er mich nun nach Hause
bringen werde. Die Art, wie er das sagte, wunderte mich. Dann sagte ich mir, vielleicht
will er nur wissen, wo ich wohne. Keiner von uns sprach im Taxi, außer um zu sagen:
„Tja, dann gute Nacht.“ „Gute Nacht.“
aus: Jean Rhys: Davon, daß man auf sitzende Vögel nicht schießt . Ü: Elfriede Jelinek. In: Schultze-Kraft, Peter und Inke (Hg.): Josefina, bedien die Herren. Geschichten von Frauen und Männern aus Lateinamerika. Frank-furt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1982, S. 92-94, S. 94.
Die karibische Schriftstellerin
Jean Rhys
wurde 1890 auf Dominica geboren und starb 1979 in London. Von ihr stammen Romane wie Wide Sargasso Sea (1966), Voyage in the Dark (1934) oder Good Morning, Midnight (1939). Diese Erzählung stammt aus der 1976 publizierten Sammlung von Kurzgeschichten Sleep It Off Lady .
Jelineks Übersetzung von Jean Rhysʼ Prosatext On Not Shooting Sitting Birds erschien 1982 in dem von
Inke
und
Peter Schultze-Kraft
herausgegebenen Band
Josefina, bedien die Herren
.
Jelineks Übersetzung von Jean Rhysʼ Prosatext On Not Shooting Sitting Birds erschien 1982 in dem von
Inke
und
Peter Schultze-Kraft
herausgegebenen Band
Josefina, bedien die Herren
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Der Band ist eine Anthologie von Texten, deren gemeinsames Thema die Lebenssituation von Frauen (
Frau
) in Lateinamerika ist. Jelinek übersetzte den Text weitgehend wörtlich und behielt auch die syntaktischen Konstruktionen des Originals bei. Die weibliche Ich-Erzählerin berichtet von einem misslungenen Rendezvous. Die
Frau
versucht, den
Mann
beim Diner mit einer erfundenen Jagdgeschichte aus ihrer Kindheit zu beeindrucken. Dieser reagiert empört darauf, dass ihre Brüder auf sitzende Vögel geschossen hätten.