„Der Jude muß verschwinden“

Abdrucke

auch in:

 

Über

Chris­to­pher Mar­lo­wes

Theaterstück

Der Ju­de von Mal­ta

(2001), das von ihr zusammen mit

Ka­rin Rausch

für das

Wie­ner Burg­thea­ter

übersetzt wurde. Über den

An­ti­se­mi­tis­mus

im Stück und in dem Zusammenhang auch über die Verknüpfung des Antisemitismus im

Na­tio­nal­so­zia­lis­mus

mit Christentum und

Ka­tho­li­zis­mus

in

Ös­ter­reich

. Weiters über Barabas, der für sie in seiner Definition über Geld (

Ka­pi­ta­lis­mus

) eine moderne Figur sei.

 

Natürlich waren fast alle Christen Antisemiten, der christliche Antisemitismus wird gerade in so katholischen Ländern wie Österreich gern geleugnet und den „heidnischen“ Nazis allein zugeschoben. Aber ohne die Heilsversprechen des Christentums unter der Stigmatisierung der Juden als „perfidi Judaei“ und letztlich Christusmörder hätten die Nazis nicht so leichtes Spiel gehabt, gerade in einem so katholischen Land wie Österreich.

Die Christen im Stück begehen ja als erstes völlig skrupellos Raubzüge, Diebstahl, sie schänden Frauen und treiben Unzucht […]. Während aber diese Kreuzrittergesellschaft einfach ihre Verbrechen begeht, hat der Jude Barabas, und darin liegt, wie ich finde, die Modernität dieser Figur, das Geld als eine Art Vermenschlichungsmaschine entdeckt. Man könnte sagen: der abstrakte Tausch paradoxerweise als das einzige zivilisatorische Element einer Raubritter-Gesellschaft. Als Ersatz für die dunklen Primärtriebe und atavistischen Greuel. Geld als Objektivierungsmechanismus.

aus: Elfriede Jelinek: „Der Jude muß verschwinden“. In: Bühne 12/2001, S. 16.

 

Natürlich ist Der Jude von Malta ein antisemitisches Stück, es kommen alle antisemitischen Stereotypen darin vor, mit einem Antisemitismus, der sozusagen seine Unschuld auch noch, in aller Unschuld, behauptet. Es ist sozusagen ein selbstverständlicher Antisemitismus. Aber gleichzeitig entlarvt es auch den Antisemitismus, und darin wird es interessant. Denn ausgelöst wird die Raserei des Barabas ja von den unerhörten Schandtaten von Christen. Und wie von einem Spiegel werden diese Untaten stets auf denjenigen zurückgeworfen, der sie auslöst und damit auch gleichzeitig eine neue „Runde“ in der Eskalation von Gewalt auslöst (das ist natürlich paradigmatisch für die politische Situation derzeit). Bis sich das in einer aberwitzigen Spirale von Enteignung, Brutalität, Diebstahl und Mord so lange dreht, bis (und das ist fast schlimmer als wenn alle tot wären) der status quo ante wieder erreicht ist und die Macht sozusagen wieder an ihrem Platz ist, bei den Kreuzrittern und beim siegreichen Gouverneur, während der Jude wie in einem Brennspiegel, in dem sich der Haß gegen ihn fokussiert hat, verbrennt (im siedenden Öl gekocht wird), man könnte auch sagen: sich in der Grube, die er andren gegraben hat, auflöst und verschwindet. Der Jude muß sozusagen verschwinden, damit er die Gemeinheit der Christen nicht mehr spiegeln kann. Damit die Christen nicht mehr sich selbst anschauen müssen, und die Christen sind hier ja Kreuzritter, Imperialisten, Völkermörder, das darf man nicht vergessen. [...] Während aber diese Kreuzrittergesellschaft einfach ihre Verbrechen begeht, hat der Jude Barabas, und darin liegt, wie ich finde, die Modernität dieser Figur, das Geld als eine Art Vermenschlichungsmaschine entdeckt. Man könnte sagen: der abstrakte Tausch paradoxerweise als das einzige zivilisatorische Element einer Raubritter-Gesellschaft. Als Ersatz für die dunklen Primärtriebe und atavistischen Greuel. Geld als Objektivierungsmechanismus.

aus: Elfriede Jelinek: „Der Jude muß verschwinden“ . In: Bühne 12/2001, S. 16.

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