Matthias, man hat dir zuwenig Zeit gegeben, aber Zeit ist nichts, was man geben kann, man kann sie sich nur nehmen.
Wer hat hier die Zeit zu vergeben (Zeit zu vergeben wird immer noch möglich sein, bedienen Sie sich, Zeit haben wir jetzt genug,
jeder hat seine eigene! Jeder macht irgendwas irgendwo, im Netz, in dem er und an dem er halt hängt. Aber dafür wird man weder
die Zeit noch die Vergebung brauchen), wer will nochmal, wer hat noch nicht? Wer Zeit und Freiheit, Freiheit für Zeit,
Zeit für Freiheit zu vergeben hat, wie man Tiere aus dem Tierheim vergibt (so habe ich dir in dem Brief damals geschrieben, Matthias),
der braucht keine Kunst mehr. Und es ist keine Kunst, keine Kunst zu brauchen.
aus: Elfriede Jelinek: Fortgehen mit wem
In: Wetter 21 (2020), S. 10-13, S. 13.
Aus Anlass des Abschieds von
Matthias Lilienthal
als Intendant der
Münchner Kammerspiele
. Rekapitulation seines Wirkens wie etwa des Projekts Shabbyshabby Apartements (2015). In diesem Kontext über die Situation der Wohnungsknappheit und der überhöhten Mietpreise (
Kapitalismus
,
Politik
) in München. Weiters über
Lilienthals
Verzicht auf die Verlängerung seiner Intendanz nach einem Zerwürfnis mit der CSU-Stadtregierung (
Kulturpolitik
), die Einschränkungen der Theater aufgrund der Corona-Pandemie (
Krankheit
), aus deren Anlass die Münchner Kammerspiele die Plakataktion Welt ohne Kunst initiierten. Ein Zitat des Textes wurde dafür verwendet. Die Plakataktion fand vom 26.6. bis Ende der Spielzeit 2020 in München statt.