Zwei Unheilbare wechseln Briefe. Die eine ahnt etwas, der andre weiß es schon,
in seinem Kopf sind nur Leichen, das paßt so gar nicht in diesen Aufbruch einer
Gruppe 47, einen der wichtigsten Foltervereine, man muß eingeladen werden zur
Folter, es kann nicht jeder gefoltert werden, nein, dazu muß man nicht berufen sein,
dazu muß man berufen erst mal werden! Diesem Ruf folgen alle. Es ist der Ruf des
modernen Menschen nach Gesundheit, von der man, von uns aus, ruhig kleine Ausflüge
in die Dichtung unternehmen kann, von uns aus gehts dort lang, wir sagen es
Ihnen doch eh!, und dort wird Gesundheit auch angeboten, und wer darf, nimmt
sie sich, nimmt zwei, Paul Celan nimmt sich keine. Für Unheilbare ist die Folter die
einzige Verlängerung ihrer Leiden, das Beste, was sie bekommen können, so wie
der Krebspatient die Folter der Chemo begrüßt, denn am Ende könnte Gesundheit
auf ihn warten. Na, auf Sie habe ich grade noch gewartet!, sagt die Gesundheit.
Aber Paul Celan weiß, daß dort etwas lauert, vor dem man vielleicht keine Angst
zu haben braucht, denn dort, wo das herkommt, sind schon viele, dort ist die Mehrheit,
wenn auch nicht die gesunde, der Jud steigt ins Gebirg, aber was macht er dort?
Weiß er? Er ist der Einzige, der was weiß, aber wenn er es sagt, wird er bloß lächerlich.
aus: Elfriede Jelinek: Krankheit und der moderne Mann. „Herzzeit“. Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Paul Celan.
In: Das jüdische Echo 57 (2008), S. 43-48, S. 44.
Über
Paul Celans
„Kranksein“ (
Krankheit
) im Kontext des Holocaust (
Judenvernichtung
,
Nationalsozialismus
); aus Anlass des 2008 erschienenen Briefwechsels zwischen
Ingeborg Bachmann
und
Paul Celan
.
Reaktion:
Hartwig, Ina
:
Verlorenheit. In: Frankfurter Rundschau,
26.9.2008
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