Rede der Preisträgerin

Abdrucke

auch in:

 

Dankesrede zur Verleihung des

Bre­mer Li­te­ra­tur­prei­ses 1996

. Über

Da­ni­lo Kiš’

Enzyklopädie der Toten , die von einer Frau in einer Bibliothek erzählt, in der das Leben jedes Menschen, der gelebt hat, aufgezeichnet ist. Über den Umgang mit bekannten und unbekannten Opfern der deutschen und österreichischen Geschichte (

Deutsch­land

,

Ös­ter­reich

,

Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung

). Vergleich von

Kiš’

Bibliothek mit einem Depot, das bis vor kurzem existiert habe, in dem die gestohlenen Habseligkeiten Vertriebener und Vernichteter solange verwahrt wurden, bis kaum jemand am Leben war, der Anspruch darauf gehabt hätte.

 

Es heisst ja immer öfter, man solle aufhören von den Toten zu sprechen; auch die Heimat, in die sich viele der Überlebenden des deutschösterreichischen Völkermordes geflüchtet hatten, das Land, auf das sie alle ein Geburtsrecht haben, kehre jetzt endlich zur Normalität zurück, gebe Gebiete zurück, schliesse Verträge, normalisiere sich, dort spreche man kaum noch von der Vergangenheit. Nur wir in den Täterländern seien noch besessen davon, nur wir suhlen uns in einer Schuld, die ja längst nicht mehr die unsere ist, wir sogenannten Gutmenschen, wir täppischen Rucksacktouristen des Todes. Wenn wir nicht schon vorher im Schlamm ausrutschen, werden riesige Denkmäler uns auf den Kopf fallen, nur damit nicht wir es sind, die später einmal nachsitzen und nachdenken müssen.

aus: Elfriede Jelinek: Rede der Preisträgerin . In: Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Senator für Bildung, Wissenschaft, Kunst und Sport (Hg.): Verleihung des Bremer Literaturpreises. Elfriede Jelinek. Jens Sparschuh. Laudationes und Reden. Bremen 1996, S. 16-20, S. 19.

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Essayistische Texte, Reden und Statements
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