Was uns vorliegt. Was uns vorgelegt wurde

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  • Je­li­nek, El­frie­de

    :

    Was uns vorliegt. Was uns vorgelegt wurde. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung – Jahrbuch

    1998

    , S. 170-174

    .

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Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1998. Zunächst kurz zur geplanten Aufhebung der Anonymität der Sparbücher in

Ös­ter­reich

. Über den „Studenten“

Ge­org Büch­ner

als Dichter und Revolutionär (

Po­li­tik

). Er habe immer auf Unrecht in der

Ge­sell­schaft

hingewiesen und dieses genauestens dokumentiert. Als Dichter habe er fremdes Sprechen in sein eigenes montiert, er habe sich zunächst mit dem Sprechen von anderen bekannt gemacht, das für ihn erst durch die Ereignisse entstanden wäre, und diese Geschehnisse dann auf die Sprache bezogen. Diese Sprache habe er „mitsamt ihrem neuen Überzug weitergegeben“. Seither würde an diesen Bezügen herumgewaschen, auch sie selbst mache das so.

 

Es stehen einander zwei Dinge gegenüber, die Sprache und ihr Besitzer. Die Sprache ist die Sprache. Sie mag bedeuten was sie will, sie mag auch nichts sagen und doch sprechen, doch immer wird was sich der Sprecher denkt an einem Gegenstand festgemacht. Das wird ein Fest! Der Sprecher darf endlich seinen Gegenstand verschlingen. Manche werden ihn leben lassen, aber nicht hoch. Es wird jedoch weiter nichts gemacht dabei, außer daß das Grenzenlose, das Denken, an die Sprache festgebunden wird, und an dieser Fessel zerrt es seither. Es gibt da einen Steckbrief für den Besitzer einer ganz bestimmten Sprache, die man kennengelernt hat, denn was vorliegt wird manchmal auch wahrgenommen: da stehen die daten eines Studenten der Medizin, der sich, nach „staatsverräterischen Handlungen“ dem genannten Staat entzogen hat. Der Student steht wo anders, aber er soll, wird er ergriffen, eingeliefert werden. Dann ist er aber geliefert! Es folgt die Beschreibung des Studenten, Größe, Alter, Haare, Stirne (sehr gewölbt), auch die Bartfarbe ist gefragt, nach der in heutigen Steckbriefen, glaube ich, nicht mehr gefragt wird. Der Student soll kurzsichtig sein. Er ist sehr jung gestorben, jetzt ist nichts mehr von ihm übrig als was er gedacht und aufgeschrieben hat. Er konnte es nicht behalten, aber wir können es behalten, wenn wir wollen.

aus: Elfriede Jelinek: Was uns vorliegt. Was uns vorgelegt wurde. In: Der Standard, 19.10.1998.

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