Strahlende Verfolger.

Uraufführung am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg, 2014. Foto: Deutsches SchauSpielHaus / Klaus Levebre

Abdrucke

Erstveröffentlichung:

Erstdruck:

  • Je­li­nek, El­frie­de

    :

    Strahlende Verfolger. In: Programmheft des Deutschen Schauspielhauses Hamburg zu Pfeffersäcke im Zuckerland & Strahlende Verfolger.

    2014

    .

Weitere Veröffentlichung:

Aufführungen

 

Jelinek verfasste Strahlende Verfolger. für

Ka­rin Bei­ers

erste Spielzeit als Intendantin des

Deut­schen Schau­spiel­hau­ses Ham­burg

. Der ursprüngliche Projekttitel Pfeffersäcke im Zuckerland wurde um den Titel von Jelineks Stück erweitert: Pfeffersäcke im Zuckerland & Strahlende Verfolger und erst zu Beginn der zweiten Spielzeit von

Ka­rin Bei­ers

Intendanz uraufgeführt.

Ein Teil des Textes wurde bereits vorab im Juli 2013 auf Portugiesisch im

Kul­tur­zen­trum Sesc-Pom­pé­ia

in São Paulo (Brasilien) präsentiert.

Der Text ist nur durch Absätze und Leerzeilen gegliedert und nicht auf SprecherInnen aufgeteilt. Ausgehend von den zahlreichen deutschen Auswanderern (

Deutsch­land

) nach Brasilien beschäftigt er sich mit den Themenfeldern

Na­tio­na­lis­mus

, Kolonialismus und

Hei­mat

und problematisiert das Spannungsverhältnis von Eigen- und Fremdkultur. Die Reflexion über nationale Identitäten und die Beziehung zu den „Fremden“ (

Flucht

,

Frem­den­feind­lich­keit

) weist Bezüge zu Jelineks Theatertext

Wol­ken.Heim. (1988)

auf. Während in

Wol­ken.Heim.

durchgehend ein Wir-Kollektiv spricht, ist Strahlende Verfolger über weite Strecken als eine Anrede an „den Deutschen“ in Ich-Form konzipiert.

Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes nachgestellt:

„(

Kant

? Nein, das kann nicht sein!

Kant

über

Heid­eg­ger

? Nein, das kann nicht sein!

Heid­eg­ger

über

Kant

? Schon eher. Und eine Prise Goethe, die finden Sie nie.)“

 

Warum ist er ausgewandert? Warum ist er jetzt woanders? Er ist überall woanders mehr woanders (oder weniger?), weil er immer mehr als ein anderer er selbst ist. Der Rumäniendeutsche ist mehr als der Rumäne, der er geworden ist, der Siebenbürgener Sachse ist mehr als ein Sachse und sogar mehr, als er später noch werden könnte, nein, er ist einfach mehr als ein Siebenbürgener, mehr nicht, ein Rußlanddeutscher ist nicht mehr er selbst, ein Baltendeutscher weiß nicht mehr, wer er ist, ein Banater Schwabe ist endlich wieder mehr als er selbst, er geht, ohne zu zögern, über sich hinaus, vielleicht um der Endlichkeit zu entgehen?, aber er ist deshalb noch nicht zwei von sich, daran muß er noch arbeiten. Aber ganz weit weg, wo er ungesehen üben kann, im Ausland, über einem Ozean, ich weiß jetzt nicht, welchem, muß nachschauen, der Deutsche weiß es natürlich schon vorher, ich nicht einmal nachher, jedenfalls auch in, sagen wir: Brasilien ist der Deutsche mehr als der Brasilianer, der er doch noch gar nicht geworden ist. Das braucht seine Zeit. Das trägt er in sich und mit sich, daß er mehr ist, als der Schlaf der Vernunft sich träumen läßt, also ist er schon mal zwei, aber in einem. Es geht bei ihm alles in einem. Damit er es leichter mitnehmen kann. Deutscher zu sein, das genügt schon, dann ist man mehr, dann wird man zur Kenntnis genommen, auch wenn man sich selbst nicht kennt. Das Zur-Kenntnis-Nehmen bedeutet, daß er genau das nimmt, was er aus sich selbst gibt, nicht mehr, nicht weniger. Ich will nicht sagen, es sei wie bei der Kuh, deren Berechtigung danach gemessen wird, wieviel Milch sie gibt, denn sie nimmt sich diese Milch ja nicht, im Gegenteil, die wird ihr weggenommen. Er rechnet sich zusammen, der Deutsche, er macht eine Einnahmen-Ausgaben-Rechnung, und siehe da, es geht sich aus! Er ist zwar davongereist, um woanders zu sein, wo es schöner ist, um mehr zu sein, als er vorher war, also diese Rechnung zu seinen Gunsten ausgehen zu lassen, aber beim Deutschen geht es sich immer grade noch aus. Knapp. Er sieht sich als mehr. Doch er ist nie mehr, als er von sich sehen kann. Das ist nur bei den Großen so, daß sie sich nicht mehr überblicken können.

Wenn er viel ausgibt, nimmt er viel ein, wenn er viel eingenommen hat, muß er zuvor viel hineingesteckt haben. Es ist bei ihm immer viel, egal an welchem Ende, denn der Deutsche weiß, was er hineinstecken muß, damit er mehr wird, er muß mehr hineinbuttern in sich, er muß mehr arbeiten als der andre, er muß fleißiger sein, und dann bekommt er mehr heraus, aber nur, weil er seine Kosten-Nutzen-Rechnung besser angestellt hat. Er hat sich bei der Ausgabe mindestens zweimal angestellt, obwohl er nur einer war. So zum Beispiel denkt der Ausgewanderte: Besitz und Recht, was haben die mit mir zu schaffen? Wer schafft es schon, beides zu haben? Muß man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine Stimme nicht gegeben, befolgen, und inwiefern ist es dem Menschen erlaubt, im stillen von den bürgerlichen Gesetzen abzuweichen? [...] Der Deutsche eröffnet vieles, deutsche Bierhäuser, deutsche Weinhäuser, deutsche Kulturhäuser, deutsche Goethehäuser, aber die sind kein Spielraum, auch wenn darin gespielt wird.

aus: Elfriede Jelinek: Strahlende Verfolger. http://www.elfriedejelinek.com/fstrahlende.html (27.6.2014), datiert mit 2013 / 26.6.2014 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Aktuelles 2014, Theatertexte).

Mehr unter Einzelne Werke