Die Straße. Die Stadt. Der Überfall.

Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, 2012. Foto: Münchner Kammerspiele / Julian Röder

Abdrucke

Erstveröffentlichung:

Teilabdruck:

 

Jelinek verfasste Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. auf Anregung von

Jo­han Si­mons

, des Intendanten der

Münch­ner Kam­mer­spie­le

, zum 100. Jubiläum der

Münch­ner Kam­mer­spie­le

. Das Stück thematisiert den Ort des Theaters: die Maximilianstraße, eine Einkaufsstraße, in der sich zahlreiche teure Mode- und Schmuckboutiquen befinden.

Dem Text ist ein Zitat vorangestellt, das sich auf Hektors Ermordung im 24. Gesang von

Ho­mers

Illias bezieht: („unempfindlichen Staub mißhandle ich, tobend vor Unsinn!“).

Die Regieanweisung weist die Reden einem Doppelgeschöpf zu, einem Mann und einer an ihn genähten Frau. Die Textsequenzen werden abwechselnd dem weiblichen und dem männlichen Teil des Doppelgeschöpfs zugewiesen. Darauf folgt eine längere Passage des „Doppelchors“. Im letzten Teil, der mit Coda. Und danach Ende übertitelt ist, ist die Sprecherstimme als „Mosi als Salomé“ ausgewiesen, womit auf den ermordeten Münchner Modeschöpfer

Ru­dolph Mos­ham­mer

Bezug genommen wird.

Ausgehend vom Diskurs der

Mo­de

reflektiert der Text die geschlechtsspezifischen Konnotationen (

Frau

,

Mann

) von

Na­tur

und

Kör­per

. Am Beispiel der in der Maximilianstraße einkaufenden Münchner „High Society“ werden Mechanismen von

Ka­pi­ta­lis­mus

, und Konsumismus in der

Ge­sell­schaft

aufgezeigt. Darüber hinaus geht es im Stück um Steuerhinterziehung und Steuerfahndung in München. Die Autorin verarbeitet im Text auch ihren eigenen Steuerfall und die damit verbundene Fahndung (eine Hausdurchsuchung mit dem Verdacht der Steuerhinterziehung).

Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes nachgestellt:
„Material, diesmal in homöopathischen Dosen, aber trotzdem muß es gesagt sein:

Os­car Wil­de

: Salomé (Übers.:

Hed­wig Lach­mann

)

Wal­ter Ben­ja­min

: Das Passagen-Werk

Ho­mer

: Ilias (Übers.: J. H. Voß)

Ro­land Bar­thes

: Die Sprache der Mode

Eu­ri­pi­des

: Bakchen (Übers.:

Kurt Stein­mann

)

Ru­dolph Mos­ham­mer

: Mama und ich

Ein bissel

Heid­eg­ger

muß schon auch sein. Wollen täte ers nicht, das weiß ich genau.“

Für die Aufführung von

Jo­han Si­mons

’ Uraufführungsinszenierung beim Berliner Theatertreffen wurden englische Übertitel angefertigt.

Ausgehend von einigen Passagen des Stücks verfasste Jelinek den Theatertext

Das Licht im Kas­ten (Stra­ße? Stadt? Nicht mit mir!)

.

 

 

Doppelgeschöpf, männl.: Paris hat seine Marktwinkel, gut, die hat diese Stadt hier auch, den Markt, er ist vielleicht das Beste an der Stadt, aber auch er geordnet, immer geordneter, katasterisiert, dieser Markt hat nichts von Ländlichkeit, je mehr Landbutter und Landobst und Landgemüse desto mehr Land wird aus ihm ausgetrieben, komisch, er zeigt in jedem Stück Obst, daß er eine Stadt ist, die Markt spielt, während die Pariser Märkte ein Stück Provinz sind, sich nicht genieren, wirklich das Land sind, das pralle Land. Hier nicht. Hier will man, indem man Land spielt, auch in der Trachtenkleidung, absolut nicht Land sein. Man zeigt jedoch in jeder Faser der Loden- und Lederbekleidung, daß man zur gleichen Zeit Land sein, auf dem Land sein könnte. Aber das Ländliche an der Kleidung, das man hier bei älteren Leuten noch sieht, verweist ganz besonders auf das Städtische, also auf die Unwahrheit, das ist hier die Spezialität, die Unwahrheit stellt hier die Ausführung, die Durchführung des Lebens dar, in dieser Tracht keine Heimatverbundenheit, nur Verbundenheit mit anderen Heimatverbundenen, oft und gern sogar: Heimatvertriebenen, obwohl auch die alle, nein, nicht alle aussterben, ihre schrecklichen Verletzungen kann man an ihren durchgebluteten Verbänden erkennen, humpa humpa, sagt die Musik, das sagt sie oft, wenn ihr nichts andres einfällt; das ist so, wenn die Menschen sich selbst finden wollen, weil sie vom Land kommen und aufs Land gehen können, wann immer gewünscht, dann verlieren sie sich, so wie ich mich hier in Abschweifungen verliere. Ich sollte und werde das alles für mich behalten. Aber ich weiß es, ich weiß: Das ist ganz genauso, das ist der Übergang im Fortgang, das ist der Fortgang im Übergang, Stadt-Land, während woanders das Land zu sich steht, Land einfach ist, obwohl in der Stadt. So. Uff.

aus: Elfriede Jelinek: Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. http://www.elfriedejelinek.com/fstrasse.html (15.7.2014), datiert mit 3.11.2012 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2012, Theatertexte).

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