Der Taucher ist eine Metapher. Für den nach Aufstieg hungernden und vor Abstieg
zitternden Kleinbürger. Untergang und Taucher: Das Sinken im Wasser als Katastrophe des Lebens schlechthin.
„Untergang eines Tauchers“ habe ich geschrieben in einer Zeit, als ich mich noch
nicht an die Wirklichkeit herangewagt hatte, weil ich sie nicht gekannt habe.
Ich habe mich vielmehr mit der Realität, wie sie sich in den Produktionen der Trivialmythologie widerspiegelt, beschäftigt: Mit Heftchen- und Illustriertenromanen.
Mit Familienserien im Fernsehen, wie „Flipper“, „Lassie“, etc. Aus der Zeit vor
„Dallas“ und „Denver“.
Die Schablonen, die vorgeben, eine äußere menschliche Form zu haben, setzen sich
aus Sprachfiguren zusammen. Die handelnden Personen nennen sich ja selbst ständig „Figuren“, sie sprechen von sich selbst, als wären sie nicht sie, als gäbe es sie
gar nicht oder nur als Projektion für etwas anderes, Mächtigeres, das sie zu dem
gemacht hat, was sie sind. Die Mutterfigur. Die Figur des zahmen Delphins. Die
Taucherfigur. Im Reich der lachenden Kinderaugen. [...]
Lassie und Flipper sind Abbilder unserer verwalteten und von geheimen, doch von
den Medien ständig angeheizten Karrierewünschen dominierten Existenz. Und
in meinem Hörspiel wandeln sie sich von den besten Freunden des Menschen zu
mordgierigen Bestien, die sich gegen ihre Besitzer und Dompteure wenden, sie anfallen und töten. Und sie sprechen das alles auch noch ständig aus! Die Betulichkeit
dieser Serien wird zu blanker Mordlust, wandelt sich in die Gewalt, die der Gesellschaft latent innewohnt (bis ab und zu ein Ventil platzt und ein Familienvater,
seiner Schulden wegen, seine Lieben ausrottet oder wieder einmal ein kleines Kind,
weil es beim Fernsehen stört, an die Wand geklatscht wird).
Ausgangspunkt für das Hörspiel war ein Zeitungsbericht über das Ertrinken eines
Werkstauchers, dessen Luftschlauch sich verklemmt hatte, und der seinen eigenen
Tod bis zuletzt über eine Leitung seinen Kameraden an der Oberfläche dokumentieren konnte.
So wird uns – gespiegelt in den Phänomenen des Überbaus, die uns jede Hoffnung
auf Dazugehören nehmen, die uns in unserer unmündigen Lage fixieren sollen –
unser eigener Untergang ständig vor Augen geführt, ohne daß wir ihn (und seine
Verursacher!) je erkennen könnten. Die Taucher sind wir. Wir sind alle Taucher,
die endlich hinauf wollen. Aber man läßt uns nicht, man schneidet uns die Luft ab.
aus: Elfriede Jelinek: Vorspruch zum Hörspiel „Untergang eines Tauchers“ . Typoskript, SDR 1989.
Es gibt Bezüge zwischen Jelineks Hörspieltext Untergang eines Tauchers , ihren beiden Kurzprosatexten
untergang eines tauchers (1970)
und
fragen zu flipper (1970)
, ihrem Essay
Die endlose Unschuldigkeit (1970)
, ihrem Roman
wir sind lockvögel baby! (1970)
und einem der Abschnitte ihres Romans
Michael (1972)
, der mit nacherzählung betitelt ist. Der Kurzprosatext
untergang eines tauchers
ist ein Vortext zum Hörspiel. Alle Texte schöpfen aus demselben Fundus: den Trivialmythen (
Trivialmythos
), den Serienhelden, den Sehnsüchten und Identifikationsfiguren der KleinbürgerInnen im Fernsehen. Die Figurenwelt in den Prosatexten und im Hörspiel ist identisch, ebenfalls die Verfremdung der freundlichen Serienhelden zu mörderischen Figuren. Jelinek dekonstruiert die von den
Medien
produzierten Trivialmythen, indem sie die Handlungen der Publikumslieblinge ins Böse verkehrt und den ideologischen Gehalt der Sprache offenlegt.
Der Text weist keine durchgängige Handlung auf. Ein wiederkehrendes Motiv ist die Suche des kriegsversehrten Tauchers (
Krieg
) nach bekannten Figuren (z.B. dem Delphin Flipper, der Schimpansin Judy oder der Hündin Lassie (
Tiere
)). Im Text finden sich zahlreiche Zitate aus US-amerikanischen Familienserien. Die Serienhelden werden in Jelineks Hörspieltext zu blutrünstigen Bestien, und die anfangs harmlos wirkenden Szenen kippen in Schilderungen von
Sexualität
und
Gewalt
, wobei sich die Gewalthandlungen vorwiegend gegen den Taucher richten. Dazwischen finden sich Sequenzen, in denen von einem Tauchgang berichtet wird, bei dem der Taucher ums Leben kommt. Dabei bezieht sich Jelinek auf einen Zeitungsbericht über den tödlichen Unfall eines Tauchers (
Katastrophe
,
Tod
), der aufgrund eines verklemmten Luftschlauchs erstickte. Neben mehreren Musikeinspielungen (z.B.
Mozart
und
Beethoven
oder der Kennmelodien der Fernsehserien) sind auch Sendestörungen und kurze Tonausfälle ins Hörspiel eingearbeitet.