Ich kann zum Rätsel „Highway“ nur wenig sagen, weil es ja ein Rätsel ist und auch
sein soll. Und bleiben muß. Es findet, ich weiß ja auch nicht wie, ein seltsamer
Vorgang statt, und zwar daß man aus dem symbolischen Bewußtsein im Film eine Art
reines Bewußtsein extrahiert und das dann wieder auf eine symbolische Ebene, aber
eine andere, die der Oper, des Musik-Theaters, transportiert, eher: transponiert. Es
ist ein doppelter Bruch von etwas, das selbst schon mehrfach gebrochen und
umgewandelt ist. Ich persönlich kenne mich in diesem Vexierspiel selbst nicht mehr aus.
Ich habe ja für dieses Libretto nicht einen realen Stoff gewählt, sondern die Realität
des Bewußtseins eines Künstlers bzw. zweier Künstler (Lynch, Gifford), also die
Realität einer Realität einer Realität. Ich weiß in diesem Fall selbst nicht, was ich
geschrieben habe, weil ich ja schon die Vorlage als einen Boden betrachte, der bereits
zerbrochen war, bevor ich überhaupt noch meinen Fuß drauf setzen konnte.
Meine Arbeit ist ein Rückzug vor dem Realen, den aber Lynch und Gifford selber
schon längst vollzogen haben. Sobald etwas real Gesetztes erscheint, wird es sofort
in Frage gestellt. Der Film, der ja das sichtbare Vergehen von Zeit ist, kann das
zeigen, indem er ist was er ist. Die Musik, die das hörbare Vergehen der Zeit ist, läßt
sich als einziges Medium dagegen setzen, als Medium, das sich auch behaupten
kann. Das wäre z.B. mit einem Theaterstück, das man nach diesem Film
verfassen wollte, absolut unmöglich. Das Theater wäre kein angemessener Ort dafür, es
könnte nur hechelnd hinterher jagen. Und dabei kann es sich doch überhaupt nicht
bewegen, das arme Ding! [...]
Ich habe nicht versucht, diese Nicht-Geschichte zu interpretieren, denn es liegt im
Wesen dieser Reduktion, daß Interpretation eben nicht möglich ist. Die Grenzen
scheinen am Anfang des Films in der Tat sehr klaustrophobisch-eng zu sein, sie
werden noch viel enger nach dem Mord, als der Protagonist in der Todeszelle
landet, die außer dem Grab das Engste ist, was man sich vorstellen kann. Zeit und
Raum sind zu einem leuchtenden Strich zusammengeschoben, also, wie gesagt:
reduziert, aufs Äußerste reduziert, wie der Tod das Leben zunichte macht, die
absolute Reduktion selbst ist, und plötzlich öffnet sich diese zerknüllte Papiertüte bzw. der
leuchtende Strich weitet sich, fächert sich auf, und die eigentliche Handlung,
jenseits jeder Logik und Erklärungsmöglichkeit, beginnt von neuem, beginnt nun erst
richtig, wird aus der Tüte herausgeschleudert, obwohl die Tüte samt Inhalt doch
soeben noch dermaßen klein zusammengeknüllt war. Oder war gar nichts drin? Es
beginnt sozusagen ein zweites Leben nach dem ersten, oder war das zweite vor dem
ersten, oder doch umgekehrt? Im Film ist das möglich. In der Kunst kann es möglich
werden, sonst nirgendwo.
aus: Elfriede Jelinek: Gespenstersehen. In: profil, 27.10.2003.
Lost Highway war ein Auftragswerk des
steirischen herbstes
2003. Jelinek erarbeitete das Libretto, das in zwei Teile gegliedert ist, gemeinsam mit
Olga Neuwirth
. Das englische Drehbuch des Films Lost Highway bildete die Grundlage. Jelinek und
Neuwirth
betonten in ihrer Bearbeitung die Elemente des Psycho-Thrillers, des Film Noir und des Horrorfilms. Sie griffen die Albträume, Phantasmen (
Wahnsinn
), Halluzinationen, Obsessionen (
Sexualität
), die Rätselhaftigkeit und A-Logik des Geschehens auf und fokussierten die Themen
Gewalt
und Verbrechen. Sie behielten die englische Sprache bei. Das Drehbuch wurde gekürzt, Szenen und Nebenfiguren fielen weg. Jelinek fügte eine Passage, die
P. J. Blumenthal
ins Englische übersetzte, hinzu: die Szene, in der Mr. Eddy einen Mann, der das Rauchverbot nicht beachtet, zur Rede stellt und ihn – aus Sauberkeitswahn – brutal zusammenschlägt.
Eine Neuerung ist auch die, parallel zu den Dialogen verlaufende, in deutscher Sprache beschriebene Video-Ebene, die komplexe Raum/Zeit- und Bewusstseinsstrukturen ermöglichen soll. Bei der Uraufführung sollte
VALIE EXPORT
diese Video-Ebene realisieren, was jedoch nicht zustande kam. Die Uraufführung verzichtete völlig auf die Video-Ebene.
Olga Neuwirth verarbeitete Teile von Lost Highway zu eigenständigen Werken weiter:
Im Rahmen des Festival Musica wurde die Suite aus „Lost Highway“ am 1.10.2004 im Palais de Fêtes in Straßburg unter der Leitung von
Johannes Kalitzke
uraufgeführt.
Die revidierte Fassung, Lost Highway Suite. , kam unter dem Dirigenten
Stefan Asbury
am 25.11.2008 in Paris in der Cité de la Musique zur Uraufführung.